Nebelriss
Felsentores. Langsam lösten sich mehrere Gestalten aus dem Schatten; eine Gruppe zerlumpter Frauen und Männer, die mit einem Seil aneinandergefesselt waren. Ihre zerschlissene Leinenkleidung entsprach nicht der arphatischen Tracht; auch ihre blasse Haut und das blonde Haar verrieten, dass sie keine Einheimischen waren. Mit schleppenden Schritten wankten sie durch das Felsentor, die Köpfe zu Boden gesenkt. Nun waren auch ihre Peiniger zu sehen: arphatische Krieger auf schwarzen Rössern, die ihre Gefangenen mit Peitschen und Stöcken vorantrieben.
»Was bei Tathril geht da vor sich?«, stieß Baniter zwischen den Zähnen hervor.
Mestor Ulba beobachtete stirnrunzelnd die Gefangenen. »Ein Flüchtlingszug, wie es scheint. Es müssen Kathyger sein, die vor den Goldei über die Grenze nach Arphat geflohen sind. Die Arphater bringen sie vermutlich zur Oase ETKarnath, um sie bei der Reisernte einzusetzen.«
Baniter hob die Augenbrauen. »Seit wann versklaven die Arphater Flüchtlinge?« Er schüttelte den Kopf. »Es scheint mit ihrem Stolz nicht weit her zu sein, wenn sie das Elend der Kathyger auf diese Weise ausnutzen.« Nachdenklich betrachtete er den Zug der wohl insgesamt fünfzig Gefangenen, die das Tor nun durchquert hatten. Einige brachen erschöpft auf dem Boden zusammen; doch sogleich ließen die Reiter ihre Stöcke und Peitschen auf sie niedergehen, bis die Gefangenen sich wieder aufrichteten, begleitet vom Gelächter der Arphater. Schon wollte Baniter angewidert den Blick abwenden, als er plötzlich bemerkte, dass sich Sadouter Suant aus dem Tross der Gesandtschaft herausgelöst hatte. Entschlossen schritt der Adelige auf die Gefangenen zu. Er hatte sein Schwert gezückt. Vier Ritter eilten ihm nach, auch sie mit gezogenen Waffen. Es waren Klippenritter, jene Männer, die das ›Gespann‹ ausgewählt hatte.
Baniter reagierte sofort. Er bedeutete Merduk und Gahelin, ihm zu folgen, und hastete Sadouter hinterher. Der Adelige hatte den Zug der Kathyger bereits erreicht. Einer der Gefangenen, ein abgemagerter Mann, war gestürzt. Die Arphater stießen mit den stumpfen Enden ihrer Lanzen nach ihm; doch als sie Sadouter gewahr wurden, ließen sie von dem Kathyger ab. Der Adelige hatte sein Schwert erhoben. Er brüllte einige unverständliche Worte. Dann, mit einem wuchtigen Hieb, durchtrennte er das Seil, mit dem der Kathyger an seine Mitgefangenen gefesselt war. Die Klippenritter umringten Sadouter und richteten ihre Waffen gegen die Arphater.
Baniter fluchte und riss sich das Tuch vom Kopf. Seine Augen glühten vor Zorn, als er vor Sadouter zum Stehen kam. »Haben Euch alle guten Geister verlassen?«, brüllte er. »Lasst Eure Waffe fallen, Sadouter Suant! Sofort!« Der Adelige fuhr herum. »Seht Ihr nicht, dass diese Menschen unsere Hilfe brauchen?« Er beugte sich zu dem Gefangenen herab, der auf dem Boden zusammengesunken war. »Es sind Flüchtlinge aus dem Rochenland, Fürst Baniter - seht Euch ihre Kleidung an! Die Arphater haben sie versklavt; Tathril sei ihrer Seele gnädig!« Baniters Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt. »Ich will kein Wort mehr hören! Legt Eure Waffe zu Boden!«
Ungläubig blickte Sadouter den Fürsten an. »Wollt Ihr mit ansehen, wie die Arphater diese unschuldigen Menschen misshandeln? Habt Ihr die Leiden unseres Volkes vergessen?« Entschlossen hob er sein Schwert. »Ein Sitharer darf nicht zusehen, wenn sich solches Unrecht vor seinen Augen wiederholt.« »Gebt mir das Schwert!«, schrie Baniter. »Ich befehle es Euch im Namen des Kaisers, im Namen des Silbernen Kreises!« Unwillkürlich tastete er nach der Fürstenkette, die er sonst um den Hals trug; doch seine Finger griffen ins Leere, und er wurde sich gewahr, dass er die Kette in Thax zurückgelassen hatte, in der Obhut seiner Frau. Der Gefangene hatte sich aufgerichtet. Angstvoll klammerte er sich an Sadouters Gewand. »Helft uns … ich bitte Euch, beschützt uns, fremde Herren«, wimmerte er, »sie werden uns umbringen … helft uns!« Baniter warf einen Blick über die Schulter. Er sah die Anub-Ejan mit gezückten Säbeln herbeieilen. »Ich sage es Euch zum letzten Mal, Sadouter Suant«, sagte er mit fester Stimme, »kommt zur Vernunft! Es steht uns nicht zu, uns in die Angelegenheiten der Arphater einzumischen!« Seine Hand fuhr an den Griff seines eigenen Schwertes. »Zwingt mich nicht, Euch vor den Augen Eurer Männer niederzustrecken. Denn das werde ich tun, wenn Ihr weiterhin die Sicherheit der
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