Nebelriss
Baniter sich über sie beugte, erkannte er zu seinem Entsetzen die Fürsten des sitharischen Thronrates: Scorutar Suant, Fürst Perjan … dort, Hamalov Lomis, sein Kopf durch einen Hieb gespalten. Der Silberne Kreis lag zu seinen Füßen, tot, erschlagen! ›Habe ich das getan?‹, stieß Baniter heiser hervor. ›War das mein Werk?‹ Entsetzt starrte er auf das blutige Schwert in seiner Hand. Doch es war verschwunden! Stattdessen entdeckte er vor sich einen jungen Mann. Sein Gesicht war schlank und schwarz, das dunkle Lockenhaar reichte ihm bis zur Schulter. Er trug ein schmutziges weißes Gewand und eine rotbraune Haube aus Leinenfetzen. In der Hand hielt er einen knorrigen Stock. Seine Fußknöchel waren schlammverkrustet; an den Handgelenken baumelten eiserne Ketten. Es fiel Baniter schwer, das Alter des Mannes zu schätzen; das dunkle Gesicht war glatt und kindlich, die Augen aber schienen die eines Greises zu sein. Zornig starrte er Baniter an.
›Du spielst dein eigenes Spiel, Baniter Geneder‹, sagte er mit einer auffallend hellen Stimme, ›und dies zu einer Zeit, die äußerst unpassend ist, äußerst unpassende Er bohrte den Stock in eine Ritze zwischen den Steinplatten zu seinen Füßen; denn die Umgebung hatte sich jäh gewandelt. Baniter befand sich nun in einem dunklen Gewölbe, einem Verlies, dessen Steinboden von Staub und grünem Schimmel besetzt war. ›Ich dulde es nicht, dass du meinen Plänen in die Quere kommst. ‹ Baniter wollte antworten, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht. Er fühlte, wie schwere Fesseln ihn herabzogen. Auch um seine Handgelenke hatten sich Ketten aus Eisen gelegt, zwangen ihn zu Boden. In der Ferne hörte er Gesang, Lachen, leise Musik - ein Fest …
›Mich kümmern deine kläglichen Intrigen nicht‹, zischte der Fremde. ›Es ist mir gleich, mit welchem Schurkenstück du dir dein Fürstentum zurückzuholen gedenkst. Selbst wenn du den wertlosen Thron in Thax erklimmen willst, werde ich dich nicht daran hindern. Ich halte nicht grundlos meine schützende Hand über dich. Doch treibe es nicht zu weit! Stellst du dich mir in den Weg, so vernichte ich dich.‹ Er beugte sich zu ihm herab. ›Gib ihn mir! Gib ihn mir zurück!‹
Baniter starrte auf seine rechte Hand. Blut quoll zwischen den Fingern hervor. Als er die Faust öffnete, erkannte er einen Gegenstand aus schwarzem Metall - einen Schlüssel. Rasch schloss er die Hand wieder. Er glühte in seinen Fingern.
›Gib ihn mir‹, fauchte der Fremde. Sein Kopf wandelte sich; der Schädel einer Echse brach unter der Haut hervor, schwarz funkelnde Augen und goldene Schuppen. Der grässliche Kiefer klaffte auseinander und zeigte eine Reihe messerscharfer Zähne. ›Er gehört mir! Ich habe ihn erschaffen!‹
Die Musik wurde lauter, schwoll an. Baniter spürte, wie mehrere Hände ihn ergriffen und aufrichteten. Sie zogen ihn von dem Fremden fort, so sehr dieser auch fluchte und mit seinem Stock drohte. Jubelnde Menschen umtanzten Baniter; manche von ihnen trugen sitharische Gewänder, andere die bunten Tücher der Arphater. Die Ketten an Baniters Handgelenken rasselten und klirrten auf dem Steinboden. Als er an sich herabblickte, sah er voller Erstaunen, dass er ein Kind in seinen Armen trug, einen Säugling, gewickelt in ein prachtvolles Seidentuch. Rasch drückte Baniter ihn an sich, damit er ihm nicht entglitt. Doch er spürte den kleinen Körper nicht mehr; seine Hände griffen ins Leere, rutschten an der glatten Seide ab. Das Kind war verschwunden, es war … Schweißgebadet fuhr Baniter auf. Sein Herz raste. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es nur ein Traum gewesen war, ein Albtraum, aus dem er erwacht war. Er saß aufrecht im Bett in seinem Zimmer, um ihn nichts als Finsternis. Baniter musste die Augen zusammenkneifen, um die blassen Umrisse des Fensters zu erkennen. Irgendjemand hatte den Vorhang zugezogen. Er hörte leise den Wind gegen den schweren Stoff schlagen.
»An'Chaki?«, flüsterte er. Vorsichtig tastete er nach ihr. Sie war fort! Das Bett war leer, und kalt die Stelle, an der sie gelegen hatte.
Und doch war jemand im Raum. Er hörte Fußsohlen über den Boden huschen, er hörte einen leisen, unterdrückten Atem. Kerzengrade setzte sich Baniter auf und lauschte. Dort, vor dem Fenster … für einen kurzen Augenblick wurde das dunkelblaue Viereck von den Konturen einer Gestalt verdeckt.
Sie kommen, um mich im Schlaf zu ermorden!
Baniter verfluchte seine Gutgläubigkeit. Er hatte
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