Nebelriss
Pfades stehen. Ein Mann war an der Wegbiegung erschienen. Gemächlich ging er ihr entgegen. Ein Schauer lief über Ceylas Rücken.
Ich habe niemanden gesehen, als ich den Weg entlanglief! Wo kommt er so plötzlich her?
Ihr Herz pochte schneller, als die Gestalt sich näherte. Es handelte sich um einen großen, wohl dreißigjährigen Mann. Die schwarzen Haare hingen lang und verfilzt in seinem Nacken. Trotz der winterlichen Kälte trug der Mann nur eine zerfetzte Leinenhose. Sein muskulöser Oberkörper war entblößt, sodass man das prächtige Hautbild sehen konnte, das Brust und Oberarme bedeckte.
Er hatte sich ihr auf wenige Schritte genähert. Sein Gesicht wirkte verschlossen, die Augen grausam, der Mund war ein verhärmter Spalt unter der scharf geschnittenen Nase. Ceylas Blick wanderte zu dem Hautbild auf seiner Brust herab. Es zeigte ein Rudel wilder Tiere, scheußliche Kreaturen mit roten Augen, zotteligem Fell und aufgerissenen Mäulern, vermutlich Wölfe. Angewidert setzte Ceyla einen Schritt zurück.
»Ceyla Illiandrin«, sagte der Fremde. Seine Stimme klang gepresst, quäkend. »Das bist du doch, nicht wahr?« Sie wollte antworten, doch ihr versagte die Stimme. Sie versuchte den Blick von der Tätowierung abzuwenden, doch das Bild der Wölfe ließ sie nicht los.
»Lass mich dein Gesicht sehen«, stieß der Mann hervor und verschränkte die Arme vor der Brust. Als die Muskeln seiner Oberarme sich spannten, geriet das Bild in Bewegung, und die Wölfe stürzten sich übereinander. Es schien, als ob sie sich ineinander verbissen.
Mit zitternden Fingern schlug Ceyla ihre Kapuze zurück. Der Fremde musterte sie mit gleichgültigem Blick. »Sie hat mir nicht gesagt, dass du so jung bist«, zischte er. »Du bist ja noch ein halbes Kind!« Nun erst bemerkte Ceyla die Messer, die der Mann an seinem Gürtel trug; zwei große, blitzende Messer mit breiten Klingen. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden, wie sie ins Taumeln geriet und zu Boden sank. Doch ihre Augen konnte sie nicht von ihm nehmen - von den Messern, von den rasenden Wölfen … »Das hat sie mir nicht gesagt«, wiederholte der Mann voller Empörung. »Ist ein Jammer, ein so junges Ding, und so hübsch! Sie wird mir das Doppelte bezahlen müssen.« Er beugte sich zu ihr herab. »Zieh deinen Mantel aus.« »Bitte lasst mich«, flehte Ceyla und presste sich die Fäuste vor den Mund. »Lasst mich in Ruhe, ich bitte Euch!« Der Mann legte den Zeigefinger vor den Mund. »Sei still, kleines Mädchen«, flüsterte er. Seine rechte Hand tastete nach den Messern. »Ich will dir ein Kunststück vorführen. Du wirst staunen.« Er kniete sich vor Ceyla auf den Boden nieder, und mit einer raschen Bewegung riss er ihren Mantel auf, während seine andere Hand die Messergriffe umschlossen. »Ein Kunststück, kleines Mädchen, eine Aufführung ganz für dich allein.« Die Messerklingen glänzten matt im Licht, und die Wölfe auf seiner Brust warfen sich aufeinander, verbissen sich in den Gurgeln ihrer Brüder -eine entfesselte Meute, die keinen Halt mehr kannte.
Rotes Licht flutete die Weihungshalle und tauchte die Marmorsäule in ihrer Mitte in blutigen Schein. Auf der glänzenden Oberfläche der Säule zeichnete sich der Abdruck einer Hand ab, ein schwarzer Stempel, der sich tief in den Stein gebrannt hatte.
Ein grauhaariger Priester stürzte durch die geöffnete Tür in den Saal. Er trug eine edle weiße Kutte, deren Ränder mit einem grünen Saum bestickt waren. Es war die Kutte des Hohepriesters, und sie stand Bars Balicor ganz vorzüglich.
»Rumos«, schrie Balicor, »wo steckst du?« Nervös fuhr sein Blick durch die Weihungshalle. Schließlich entdeckte er den Bathaquari, der in einer dunklen Ecke der Halle stand und damit beschäftigt war, ein zu seinen Füßen liegendes Bündel zu schnüren.
Als Balicor ihm entgegeneilte, richtete sich Rumos gemächlich auf. »Tathril zum Gruß, Eure Heiligkeit.« Er trug heute weder eine Priesterkutte noch sein troublinisches Kaufmannsgewand. Stattdessen hatte er sich in Lumpen gehüllt. Sie starrten vor Schmutz, und ein säuerlicher Geruch ging von ihnen aus. Auch die Haare und der Bart des Bathaquaris wirkten ungepflegt. »Was kann ich für unseren frisch gebackenen Hohepriester tun?« »Die Weißstirne haben das äußere Tor durchbrochen«, keuchte Bars Balicor. »Hörst du nicht den Lärm?« Rumos legte den Kopf in den Nacken und lauschte. Tatsächlich - aus der Ferne klangen Schreie, das Klirren aufeinander
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