Nebelschleier
Kutschertrunk.«
Der Kutschertrunk war eine Spezialität der Brauerei Steinlein, ein dunkles, untergäriges Gebräu, das ungefiltert angeboten wurde, nicht zu bitter und sehr süffig war – dieses Bier war wirklich einmalig, denn man bekam es nur hier. Angermüller ließ sich hin und wieder eine Kiste davon nach Lübeck schicken.
Es dauerte ein wenig, bis Paola auch an den Tisch kam, denn sie begegnete einigen Hotelgästen und versäumte nicht, Hände zu schütteln und mit jedem freundlich lächelnd ein paar Worte zu wechseln. Bestimmt war das nicht einfach für sie, an einem Tag wie heute, doch sie blieb die perfekte Gastgeberin, aufmerksam und charmant. Sie zapfte selbst den Kutschertrunk für ihn und brachte sich ein Wasser mit.
»Prost Georg! Auf unser Wiedersehen!«
»Prost Paola!«
Ihre Gläser klangen aneinander und sie sahen sich an und für einen Moment schien die Gegenwart weit weg zu sein. Dann lachten beide verlegen. Georg wandte sich dem Glaskrug zu, an dem es von dem kühlen Inhalt außen nass perlte, nahm einen großen Schluck und fand wie immer, dass der Kutschertrunk frisch gezapft am besten schmeckte – nirgendwo gab es für ihn ein besseres Bier. Bier war ohnehin das Getränk Oberfrankens. Es passte zum Klima und zur Küche. Hier gab es heute noch die größte Dichte an kleinen, privaten Brauereien in Deutschland und die Leut tranken auch jeden Tag noch ihr einheimisches Bier.
»Bist du eigentlich schon zu irgendwelchen Erkenntnissen gelangt, Georg?«, riss Paola ihn aus seinen bierphilosophischen Betrachtungen. »Ich meine, wenn du auch für Rosi was rausfinden solltest, hast du ja vielleicht schon angefangen.«
»Naja, das Einzige, was ich bisher festgestellt hab, ist, dass es viele gibt, die einen Grund hatten, eurem Vater Böses zu wollen, und kaum einen, der bedauert, was mit ihm passiert ist. Tut mir leid, wenn ich das so offen sage.«
Paola blickte nach unten und schüttelte abwehrend den Kopf.
»Ist schon in Ordnung, Georg«, murmelte sie. »Du hast ja recht. Er hat es sich mit vielen hier im Dorf verdorben.«
»Neben all den alten Geschichten gibt es halt Gerüchte: Er soll ein Verhältnis mit einer jungen Frau gehabt haben, und die wiederum soll einen Freund haben, der womöglich eifersüchtig war. Und dann gibt’s immer wieder Hinweise auf einen geplanten Grundstücksverkauf an einen großen Saatgutkonzern, der gentechnische Versuche machen will, und viele Leute, die das verhindern wollen.«
»Ja, das mit der Gentechnikfirma ist ein großes Thema im Dorf. Die meisten sind ja dagegen, und mein Schwager, der ist ganz vorn mit dabei.«
Es war nicht auszumachen, ob dieser Hinweis auf Johannes lobend oder kritisch von ihr gemeint war.
»Weißt du denn, ob dein Vater entsprechende Pläne hatte?«
Paola zuckte mit den Schultern.
»Ich war jedenfalls nicht eingeweiht, sollte er das wirklich vorgehabt haben. Ich weiß nur, dass mein Schwager, der seit seiner Heirat mit Rosi unseren Gasthof nicht mehr betreten hat, vor einigen Tagen hier auftauchte. Er hat wahrscheinlich nicht mitbekommen, dass ich ihn gesehen habe. Bestimmt hat er versucht, Vater von der großen Verantwortung zu überzeugen, die er der Menschheit gegenüber hat.« Sie ließ ein höhnisches Lachen hören.
Angermüller verbarg seine Überraschung. Johannes hatte ihm nicht gesagt, dass er erst vor Kurzem Kontakt mit seinem Schwiegervater hatte.
»Und was ist an der Geschichte mit der jungen Frau dran?«
»Ach ja, die Irina!«, Paola seufzte. »Wegen ihr hatte ich meine letzte große Auseinandersetzung mit ihm. Auch wenn der Papa bös zugerichtet war von dem Schlaganfall, er wusste sich immer noch durchzusetzen …«
»Wie denn?«
»Er hat dich einfach erpresst! Wenn er sich so aufgeregt hat, rollten seine Augen wie wild und sein Kopf ist ganz rot geworden, und ich wusste ja, dass ihm das schadet. Da hat man immer gleich Angst um ihn gehabt und lieber nachgegeben, bevor ihm was passiert. Und mit der Linken hat er geschrieben, was er wollte, in wenigen Worten und wehe, du hast ihn nicht sofort verstanden – da ist er gleich wieder explodiert.«
»Ich kann mir gut vorstellen, dass das nicht leicht für dich war«, meinte Angermüller mitfühlend. »Und was war mit dieser Irina?«
»Das ist so ein junges Ding, das ich als Pflegerin für Papa eingestellt hatte. Sie ist erst vor ein paar Jahren mit ihrer Großmutter aus Russland hierhergekommen. Ganz hübsch, aber ein bisschen billig. Der Papa war ganz verrückt
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