Nebelschleier
einfach zu ignorieren, trat auf Paola zu und reichte ihr die Hand, um ihr zu kondolieren. Sie ergriff sie und fiel ihm spontan um den Hals, sodass ihm gar keine andere Möglichkeit blieb, als sie zu umarmen.
»Mein Beileid, Paola«, murmelte er, während er ihr mit einer Hand beruhigend über den Rücken strich, misstrauisch beäugt von Rolf Bohnsack.
»Na gut, Frau Steinlein – dann wollen wir nicht länger stören. Wir melden uns, wenn es etwas Neues gibt oder falls wir Fragen haben. Wiedersehen«, verabschiedete sich Bohnsack unüberhörbar unwirsch und zu Angermüller gewandt: »Angenehmen Urlaub noch, Angermüller.«
Es klang wie eine Drohung.
Paola war so schlank wie vor 20 Jahren. Ihr wadenlanger Rock war aus dem gleichen gemusterten Stoff wie die Kleidung ihrer Mitarbeiter. Dazu trug sie eine schlichte weiße Bluse und alten Silberschmuck – es sah sehr elegant und sehr bayerisch aus, war aber keineswegs irgendeiner Tradition geschuldet. Touristen, besonders ausländische, mochten nun mal alles Bayerische – auch in Oberfranken. Das schwarze Haar kringelte sich in kleinen Löckchen um ihr apartes Gesicht mit den dunklen Augen. Paolas Aussehen war ein Erbe ihrer Mutter, die aus Süditalien stammte und an die sie keine Erinnerung mehr hatte, denn die Mutter hatte den Steinleins Bernhard kurz nach der Geburt der Tochter verlassen und war nie wieder in Niederengbach aufgetaucht.
Als sich die beiden Polizisten entfernt hatten und Georg und Paola allein waren, standen sie einen Moment schweigend da, und keiner wusste so recht, wohin mit dem Blick.
»Magst du mit in mein Büro kommen?«, fragte Paola mit einer höflich einladenden Geste.
Anders als von Georg erwartet, hatte ihr Büro so gar nichts Repräsentatives. Es war ein kleines Zimmerchen, vollgestopft mit Regalen voller Aktenordner, Prospekte und Zeitschriften, auf dem Schreibtisch eine Computertastatur, ein Bildschirm und drei Telefone, dazwischen Kalender dieses und des nächsten Jahres, Briefe und etwas, das wohl Reservierungslisten waren. Der Raum sah nach Arbeit aus, und außer einem Foto von Steinleins Gasthof aus den 20er Jahren und ein paar Pokalen und Urkunden, die Paolas Leistung als Sportschützin im örtlichen Verein dokumentierten, gab es nichts irgendwie Schmückendes. Auffällig war in einer Ecke auf einem Tischchen nur ein Modell aus Pappe, das augenscheinlich die Hotelanlage und ihre Umgebung darstellen sollte.
»Ja, Paola, ich kann mir vorstellen, dass es jetzt bestimmt nicht leicht für dich ist. Wann hast du das mit deinem Vater überhaupt erfahren?«
Georg Angermüller saß ihr gegenüber, auf einem unbequemen Hocker vor dem Schreibtisch.
»Als ich vor zwei Stunden nach Hause kam«, sie schluckte. »Ich hatte in der Gegend von Bamberg heute Termine bei verschiedenen Gemüsebauern, weil wir auf der Suche nach neuen Lieferanten sind, und da bin ich frühmorgens aufgebrochen. Meine Mitarbeiter haben mich vorhin mit der Nachricht …«, Paola schlug die Hände vors Gesicht, aber sie fing sich wieder. Sie war schon immer sehr diszipliniert und wusste Haltung zu bewahren. »Als ich so gegen Mittag bei meinem nächsten Termin anrufen und mich entschuldigen wollte, dass es ein bisschen später wird, stellte ich fest, dass der Akku meines Handys leer war. Wenn ich das rechtzeitig gemerkt hätte, dann …«
Sie schüttelte den Kopf und sah zu Boden.
»Was dann? Ob du von dem Unglück ein paar Stunden früher erfahren hättest, was hätte das an den Tatsachen geändert?«
Paola seufzte.
»Da hast du auch wieder recht.«
»Wie ging’s deinem Vater überhaupt so in letzter Zeit? Ich hab ihn vor zwei Jahren, glaub ich, das letzte Mal gesehen, da schob ihn jemand im Rollstuhl durchs Dorf.«
»Tja, wie ging’s ihm? Seit seinem schweren Schlaganfall hatte er nicht mehr viel vom Leben, er ist ja fast komplett gelähmt – gewesen … Aber geistig war er noch völlig klar, er wollte immer über alle größeren Entscheidungen im Betrieb informiert werden und wollte auch immer raus, durchs Dorf, in den Schlosspark – es war ihm egal, wenn die Leut ihn angestarrt haben. Er hat durchgesetzt, dass wir diesen Elektrorollstuhl angeschafft haben, und war nicht davon abzubringen, allein damit herumzufahren. Und jetzt …«
Ihr Blick verlor sich in der Ferne.
»Du kennst ihn ja von früher – er war ein echter Dickschädel.«
»Er hat hier auf dem Hof gewohnt?«
»Ja, wir haben im Erdgeschoss vom Hotel eine Zweizimmerwohnung absolut
Weitere Kostenlose Bücher