Nebelschleier
Datum von Freitag. Aufmerksam sah Angermüller die restlichen Papiere aus der Mappe durch. Die Skizze 2a zeigte einen Plan von Niederengbach, in dem die Grundstücke des alten Steinlein blau umrissen eingezeichnet waren. Einige waren zusätzlich noch durch rote Linien gekennzeichnet. Das waren die neu hinzugekommenen, die rund um Brauerei und Landgasthof lagen. Inklusive aller Auslagen und Gebühren belief sich die Rechnung von Ottmar für seine Vermittlertätigkeit auf fast 100.000,– Euro. Das war ein hübsches Sümmchen und wahrscheinlich kassierte er bei den Camposano-Leuten auch noch einmal ordentlich ab. Trotzdem war Angermüller erstaunt. Dieses Traumhonorar war zwar vielleicht eine Unverschämtheit und nicht in Ordnung im moralischen Sinne, doch soweit er das beurteilen konnte, gab es keine Anzeichen für unredliche oder kriminelle Praktiken bei diesem Geschäft. Aber wer weiß, vielleicht waren da ja noch ganz andere Dinge gelaufen. Er begann, systematisch die Schublade und die Fächer des Schreibtisches zu durchsuchen, doch sie waren größtenteils leer und enthielten nur ein paar alte Akten und Bankauszüge aus der Zeit, als Steinlein noch gesund und in der Lage war, die Geschäfte von Gasthof und Brauerei selbstständig zu führen.
Angermüller schob die Schublade zu und schloss sämtliche Türen des Schreibtisches, dann sortierte er die Papiere wieder ordentlich in die Mappe und rückte sie zurück in die Mitte der Schreibunterlage. Dabei kam darunter so ein kleiner, gelber Notizzettel zum Vorschein, wie man sie auf Schriftstücke kleben und rückstandslos wieder lösen kann.
›Liebste Paola!‹, stand darauf. ›Nur damit du selbst siehst, was mir jetzt entgeht. Ich habe nicht übertrieben, oder? Gruß, OF.‹
Während er mit dem Zettel in der Hand so stand und überlegte, was diese Nachricht an Paola, die ja wohl eindeutig von Ottmar Fink stammte, zu bedeuten hatte, meinte Angermüller plötzlich, hinter sich ein Geräusch ausgemacht zu haben. Aufmerksam lauschend und ohne sich etwas anmerken zu lassen, legte er langsam den Notizzettel zurück auf die Arbeitsunterlage und schob die silbergraue Mappe darüber. Hinter ihm bewegte sich jemand, dessen war er sich jetzt ganz sicher. Ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf beendete das Rätselraten, wer es wohl sein könnte. Angermüller ging zu Boden.
Wie viel Zeit er auf dem dicken Orientteppich zugebracht hatte, wusste der Lübecker Kommissar nicht, als er mit schmerzendem Kopf erwachte. Langsam rappelte er sich hoch, und nach und nach kam ihm ins Gedächtnis, was sich vor dem Sturz in die Dunkelheit zugetragen hatte: der Notizzettel, den er auf dem Schreibtisch gefunden hatte, und dass jemand hinter ihm in den Raum gekommen war. Jetzt war der Schreibtisch jedenfalls leer. Angermüller meinte, gleich würde seine Schädeldecke platzen, solch rasende Kopfschmerzen hatte er. Außerdem war ihm im Magen ziemlich flau. Trotzdem konnte er nicht aufhören über die Worte auf dem Notizzettel nachzudenken. Der einzige Schluss, den er schließlich zog, war der, dass Paola und Ottmar vor Kurzem miteinander gesprochen haben mussten.
Er wankte ins Badezimmer, setzte sich auf den neben dem Waschbecken angebrachten Spezialsitz und ließ das kalte Wasser laufen. Auch wenn der erste Kontakt mit dem eiskalten Nass höllisch unangenehm war, hielt er entschlossen seinen Kopf darunter, bis er sich halb betäubt anfühlte. Er schüttelte das Wasser aus seinem dichten Haarschopf und erschrak, als er im Spiegel hinter dem Becken sein blasses Gesicht sah, in dem immer noch das mittlerweile anthrazitfarbene Veilchen prangte. Doch zum Ausruhen war keine Zeit. Sein Blick fiel auf den Porzellanschwan mit den Blumen, und plötzlich war es, als ob ein Schleier sich hob: Natürlich! Die beiden Personen, die er am Abend des Tattages am anderen Ufer im Nebel des Schwanensees beobachtet hatte – der große, schlanke Mann, den er für seinen Freund Johannes gehalten hatte, und die zierliche, kleine Person daneben – das waren Paola und Ottmar gewesen!! Kurz darauf war ihm Paola ja sogar im Park begegnet! Wie hatte er nur so blind sein können?
Die Übelkeit ignorierend, trocknete er Gesicht und Haare so gut er konnte und machte sich daran, Steinleins Wohnung zu verlassen. ›Moment‹, dachte er, als er schon im Flur war. ›Hab ich eben richtig gesehen?‹ Er ging noch einmal zurück. Tatsächlich! Der Waffenschrank im Schlafzimmer des Alten stand offen und in der Reihe der
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