Nebelschleier
trotz seiner Lederjacke war Georg Angermüller ziemlich kalt. Er nahm mit zwei großen Schritten die Treppe hinauf zum Hoteleingang und fragte den jungen Mann an der Rezeption nach Paola.
»Grüß Gott, Herr Angermüller! Ich glaub, die Chefin ist in der Küche und bespricht sich mit dem Koch. Wir haben ja heute noch mehrere Familienfeiern hier. Sie kommen doch auch nachher mit der Familie zur Geburtstagsfeier von Ihrer Mutter, gell?«
Angermüller nickte. Der junge Mann hatte ihn sofort wiedererkannt und war bestens informiert, obwohl er ihm nur einmal begegnet war. Entweder er stammte aus Niederengbach und war deshalb über ihn auf dem Laufenden, oder aber er war ein echter Profi und speicherte jeden Gast, den er einmal gesehen hatte, sofort in seinem Gehirn ab, mit allen dazugehörigen Details, deren er habhaft werden konnte, um ihn beim nächsten Mal ganz persönlich ansprechen zu können.
In der Restaurantküche fand Angermüller nur zwei junge Burschen, von denen der eine Töpfe schrubbte und der andere Gemüse schnitt. Die Chefin war vor einer Viertelstunde hier gewesen, hieß es, um sich mit dem Küchenchef zu beraten. Dann sei so ein großer Blonder aufgetaucht, der sie sprechen wollte, und mit dem sei sie weggegangen. Wohin, das wussten sie nicht. Angermüller, der sich sofort sicher war, dass es sich bei dem blonden Mann nur um Ottmar Fink handeln konnte, begab sich hastig durch den langen Flur zu den Gasträumen, wo nur noch wenige Tische mit Gästen besetzt waren und zwei Bedienungen unbeschäftigt am Tresen standen und schwatzten. Keine Paola. Vielleicht war sie inzwischen ja wieder in ihrem Büro. Also nahm er den Weg an der Rezeption vorbei, die gerade unbesetzt war, zu dem kleinen Zimmerchen, das gleich dahinter lag.
Je länger es dauerte, Paola endlich zu finden, zu sprechen, zu fragen, warum sie ihm ihre Beziehung zu Ottmar verschwiegen hatte, desto nervöser wurde Angermüller, zumal er jetzt wusste, dass auch Ottmar Fink sich in der Nähe befand. Die verschiedensten Szenarien gingen ihm durch den Kopf. So, wie Paola ihm den Ottmar geschildert hatte, schien er ein skrupelloser Typ zu sein. Wahrscheinlich hatte sie das leider zu spät erkannt. Schließlich sah er ja recht gut aus, konnte sich charmant und unterhaltend geben – warum sollte nicht auch Paola dafür empfänglich sein? Er fand das durchaus verzeihlich. Kurz nach Beginn der Beziehung war Ottmar Fink dann klar geworden, welches finanzielle Potenzial der Steinleinsche Besitz darstellte. Oder war es vielleicht von Anfang an sein Antrieb gewesen, sich an Paola heranzumachen?
Dann hatte Bernhard Steinlein die schöne Irina kennengelernt, und es war zu befürchten, dass der verliebte Alte alle bereits verabredeten Geschäfte wieder rückgängig machen würde. Ottmar Fink sah seine Felle wegschwimmen und brachte ihn deshalb kurzerhand um. Die Gier nach Geld war von jeher ein gängiges Motiv für einen Mord. Oder der schöne Ottmar machte sich gar nicht selbst die Finger schmutzig und ließ Bernhard Steinlein umbringen, was durchaus denkbar war, wenn er sich in den Kreisen bewegte, die Paola angedeutet hatte. Wenn er nur wüsste, was für Geschäfte oder Verträge Ottmar Fink dem Alten untergeschoben hatte!
Die Tür zu Paolas kleinem Büro stand wie immer offen, doch der Stuhl hinter dem Schreibtisch war leer. Gleich nebenan lag ihre Wohnung. Auf sein Klingeln und Klopfen öffnete niemand. Angermüller spürte, wie seine Unruhe wuchs. Er wollte Paola unbedingt finden, nicht nur mehr wegen seiner offenen Fragen, sondern auch, weil er sie in Gefahr wähnte. Ihm fiel der Gruß ein, den Ottmar ihm bei ihrer zufälligen Begegnung in Coburg an Paola aufgetragen hatte. War das vielleicht schon als versteckte Drohung gemeint gewesen?
Unschlüssig sah er sich um. Schräg gegenüber gab es auch eine Tür. Sie war etwas breiter als die von Paolas Wohnung. Auf dem Klingelschild stand ›B. Steinlein‹. Angermüller klingelte auch hier, und als niemand kam, versuchte er zu klopfen, und wie von selbst öffnete sich die Tür bei der ersten Berührung. Sie war nur angelehnt gewesen.
»Paola?«
Als er auch darauf keine Antwort bekam, betrat er leise den kleinen Flur. Es gab hier keine Schwellen, die Türausschnitte waren verbreitert worden, sodass man bequem mit einem Rollstuhl manövrieren konnte, und die Wände waren etwa bis Ellbogenhöhe abgepolstert. Zu seiner Linken stand eine Tür offen. Dahinter lag die Küche. Auf dem Tisch stand ein Krug
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