Nebelsturm
das Viertel um den Hauptbahnhof abgefahren. Dort war er in der Vergangenheit so oft gewesen, mit oder ohne Katrine. Aber damals hatten sie sich Sorgen um Ethel gemacht.
Diesmal hatte er Todesangst, dass Livia etwas zustoßen könnte.
»Ich habe Ethel gefunden. Sie lag auf dem Friedhof der Klara-Kirche. Sie hatte sich bei einem großen Familiengrab verkrochen und war eingeschlafen. Livia saß neben ihr im dünnen Nachthemd, war vollkommen unterkühlt und apathisch. Ich rief einen Notarztwagen und sah zu, dass Ethel in die Entzugsanstalt gebracht wurde. Zum zweiten Mal. Danach bin ich mit Livia nach Hause gefahren.«
Er versank eine Weile in seinen Gedanken.
»Katrine hat mich nach diesem Vorfall vor die Wahl gestellt. Ich habe mich für meine Familie entschieden.«
»Sie haben die richtige Wahl getroffen«, tröstete ihn Gerlof.
Joakim nickte, er hätte lieber nicht wählen müssen.
»Ich habe Ethel verboten, zu uns zu kommen … daran hat sie sich aber nicht gehalten. Wir haben sie nicht ins Haus gelassen.Zwei- oder dreimal die Woche stand sie in ihrer zerschlissenen Jeansjacke vor unserem Gartentor und starrte die Apfelvilla an. Sie hat sogar manchmal unsere Post geöffnet auf der Suche nach Bargeld oder Schecks. Und ab und zu hatte sie einen Freund dabei, auch so ein klapperdürres Skelett, der schwankend und schlotternd neben ihr stand.«
Ihm wurde bewusst, dass dies seine letzte Erinnerung an seine Schwester war: am Gartentor stehend mit kreidebleichem Gesicht und verfilztem Haar.
»Ethel stand vor dem Haus und schrie«, fuhr er fort. »Sie beschimpfte hauptsächlich Katrine. Mich auch, aber meistens attackierte sie Katrine. Sie brüllte, bis die Gardinen in den Nachbarhäusern beiseitegeschoben wurden. Und dann bin ich rausgelaufen und habe ihr ein bisschen Geld gegeben.«
»Hat das geholfen?«
»Ja, natürlich, für den Moment. Aber es führte dazu, dass sie zurückkam, sobald sie wieder pleite war. Das war ein Teufelskreis. Wir fühlten uns von ihr belagert. Manchmal wachte ich nachts auf und hörte Ethel schreien, aber als ich nachsah, war die Straße menschenleer.«
»War Livia zu Hause, wenn Ihre Schwester auftauchte?«
»Ja, meistens.«
»Hat sie Ethel auch schreien hören?«
»Das vermute ich. Sie hat nie etwas gesagt, aber ich gehe davon aus, dass sie Ethel gehört hat.«
Joakim schloss die Augen.
»Das waren dunkle Monate … eine schreckliche Zeit. Katrine fing an, sich Ethels Tod zu wünschen. Wenn wir im Bett lagen, hat sie häufig gesagt, Ethel würde bestimmt früher oder später eine Überdosis nehmen. Je früher, desto besser. Ich glaube, wir beide hofften darauf.«
»Und das passierte dann auch?«
»Ja, am Ende schon. Das Telefon klingelte eines Nachts gegen halb zwölf. Weil es so spät war, wusste ich, dass es etwas mit Ethel zu tun haben musste. So war es immer gewesen.«
Ein Jahr war das nur her, dachte Joakim, aber es fühlte sich an wie zehn.
Seine Mutter Ingrid überbrachte die Todesnachricht. Ethel war in Bromma am Strand gefunden worden, ertrunken. In unmittelbarer Nähe der Apfelvilla. Katrine hatte Ethel an diesem Abend noch gesehen. Gegen sieben Uhr hatte sie wie immer am Tor gestanden und herumgebrüllt. Dann war ihre Schreierei plötzlich verstummt. Und als Katrine aus dem Fenster gesehen hatte, war sie verschwunden.
»Ethel ist zum Strand gegangen, hat sich in einem alten Bootsschuppen verkrochen und sich einen Schuss gesetzt. Und dann muss sie in das eiskalte Wasser gestolpert sein. So ist sie gestorben.«
»Waren Sie an diesem Abend nicht zu Hause?«, fragte Gerlof.
»Ich kam später, Livia und ich waren auf einem Kindergeburtstag.«
»Das war bestimmt schön für die Kleine.«
»Ja. Danach hatten wir die Hoffnung, dass endlich alles wieder so wie früher werden würde. Aber ich schreckte nachts häufig auf und meinte, Ethel draußen schreien zu hören. Und Katrine hatte ihre Fröhlichkeit verloren. Die Apfelvilla war fertig renoviert und sah toll aus, aber Katrine fühlte sich dort nicht mehr wohl. Bald darauf fingen wir an, über einen Umzug aufs Land nachzudenken, in den Süden, auf einen Hof auf Öland zum Beispiel. Und das haben wir dann ja auch getan.«
Er sah auf die Uhr. Zwanzig nach vier. Er hatte in den vergangenen Stunden mehr geredet als in den letzten Monaten.
»Ich muss die Kinder holen«, entschuldigte er sich und stand auf.
»Hat Sie eigentlich jemand gefragt, wie es Ihnen geht, mit dieser neuen Situation?«, fragte Gerlof.
»Wie
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