Nebelsturm
anzusehen. Es war April, das Eis hatte vor Kurzem erst den Sund wieder freigegeben. Die Sonne ging gerade unter, und im Hafen war keine Menschenseele … nur an Deck der Ingrid Maria sah ich den alten Gerhard Marten herumlaufen, so als fiele es ihm schwer, sich zu verabschieden. Ich ging an Bord. Leider erinnere ich mich nicht, worüber wir gesprochen haben, aber wir gingen zusammen über Deck, und er zeigte mir ein paar reparaturbedürftige Details. Dann bat er mich, gut auf seine Ingrid Maria aufzupassen,und wir verabschiedeten uns voneinander. Ich fuhr nach Hause zu meinen Eltern, aß zu Abend und wollte danach losziehen, um den Kauf perfekt zu machen.«
Gerlof verstummte, hob den Kopf und betrachtete liebevoll die Fotografien seiner Frachtschiffe.
»Gegen sieben Uhr radelte ich zu den Martens, die nördlich von Borgholm wohnten. Aber ich betrat ein Haus der Trauer. Martens Ehefrau öffnete mir mit roten, verweinten Augen. Gerhard Marten war tot, wie sich zeigte. Er hatte bereits am Abend zuvor den Vertrag unterschrieben, war frühmorgens hinunter zum Strand gegangen und hatte sich mit seinem Schrotgewehr erschossen.«
»Frühmorgens?«, wiederholte Joakim.
»Ja, am frühen Morgen desselben Tages. Als ich also Gerhard Marten unten am Hafen begegnete, war er bereits seit mehreren Stunden tot. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich weiß , dass ich ihn an jenem Nachmittag getroffen habe. Wir haben uns die Hand gegeben.«
»Dann haben Sie einen Wiedergänger gesehen?«, fragte Joakim.
Gerlof sah ihn an.
»Kann sein. Aber das beweist ja nichts. Auch nicht, dass es ein Leben nach dem Tode gibt.«
Joakim rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her und sah auf das Paket in seinem Schoß.
»Ich mache mir Sorgen um meine Tochter Livia«, gestand er dann. »Sie ist erst sechs Jahre alt und spricht im Schlaf. Das hat sie schon immer getan … aber seit dem Tod meiner Frau hat sie begonnen, von ihr zu sprechen.«
»Überrascht Sie das wirklich?«, fragte Gerlof erstaunt. »Auch ich träume von meiner verstorbenen Frau, und sie ist schon seit vielen Jahren tot.«
»Ja … aber ihr Traum wiederholt sich. Livia träumt, dass ihre Mutter nach Åludden zurückkehrt, aber den Weg auf den Hof nicht findet.«
Gerlof hörte schweigend zu.
»Und zwischendurch hat sie auch von Ethel geträumt«, fuhr Joakim fort. »Das beunruhigt mich am meisten.«
»Und wer ist das?«
»Ethel war meine Schwester. Sie war drei Jahre älter als ich.« Joakim seufzte. »In gewisser Hinsicht ist das meine Geistergeschichte.«
»Wenn Sie mögen, dürfen Sie sie mir gerne erzählen«, lud Gerlof ihn ein.
Joakim nickte müde. Es war an der Zeit.
»Ethel war heroinabhängig«, begann er. »Sie starb in einer Winternacht in unmittelbarer Nähe unseres Hauses in Bromma. Sie hatten mich gefragt, warum wir das Haus dort verkauft haben und hierhergezogen sind. Das hatte viel mit meiner Schwester und ihrem Tod zu tun. Danach wollten wir nicht mehr in Stockholm bleiben.«
Erneut verstummte er. Einerseits hatte er das Bedürfnis, endlich darüber zu sprechen, andererseits wollte er nicht an Ethel oder ihren Tod erinnert werden. Ganz zu schweigen von Katrines Depressionen, die sie danach bekommen hatte.
»Aber Sie vermissen Ihre Schwester?«, fragte Gerlof.
Joakim musste nachdenken.
»Ein bisschen.« Das klang furchtbar und herzlos, daher fügte er hinzu: »Ich vermisse den Menschen, der sie vorher war … vor den Drogen. Ethel war immer voller Pläne. Sie wollte einen Friseursalon eröffnen, dann wollte sie Musiklehrerin werden … aber man wurde es irgendwann leid. Keiner dieser Pläne wurde in die Tat umgesetzt, immer waren die Drogen wichtiger. Es war, als würde man einem Menschen zuhören, der in einem brennenden Haus sitzt und von Flammen umringt eine Party plant.«
»Wie fing das denn alles an?« Gerlof klang, als würde er sich für die Frage entschuldigen. »Ich kenne mich in dieser Welt so gar nicht aus …«
»Bei Ethel fing alles mit Haschisch an«, erklärte Joakim. »Piece wird es auch genannt. Es war cool, auf Partys und KonzertenHasch zu rauchen. Und für Ethel war das Leben mit zwanzig eine einzige große Party. Sie spielte Klavier und Gitarre. Sie hat mir auch viel beigebracht.«
Er musste lächeln.
»Es klingt, als ob Sie Ethel gern hatten«, sagte Gerlof.
»Ja, natürlich. Ethel war fröhlich und lustig. Sie war auch ziemlich hübsch und beliebt bei den Jungs. Und sie hat immerzu Party gemacht, mit
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