Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebelsturm

Nebelsturm

Titel: Nebelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
Vom Netzwerk:
Amphetaminen konnte man länger durchhalten. Sie hat viel abgenommen, bestimmt zehn Kilo. Dabei war sie schon sehr schlank. Sie war immer seltener zu Hause. Dann starb mein Vater an Krebs, und ich glaube, da fing sie mit Heroin an, zuerst hat sie es geraucht. Ihr Lachen wurde härter und heiserer.«
    Schnell nahm er einen Schluck Kaffee und fuhr dann fort.
    »Wer Heroin raucht, meint, nicht wirklich drogenabhängig zu sein. Man ist dann kein richtiger Junkie. Aber früher oder später versucht man es mit einer Spritze, weil es auch billiger ist. Man benötigt weniger Heroin pro Dosis. Und trotzdem muss man für seinen Schuss mindestens fünfhundert Kronen am Tag zusammenbekommen. Das ist viel Geld, vor allem wenn man keines hat. Dann muss man es eben stehlen. Man kann seiner alten Mutter das Geld aus dem Portemonnaie klauen oder ihren Erbschmuck mitgehen lassen.«
    Joakim betrachtete die Adventskerzen.
    »Wenn wir an Weihnachten bei meiner Mutter beim Festmahl saßen, blieb ein Stuhl immer leer. Ethel hatte wie so oft versprochen zu kommen, lungerte dann aber doch in der Stadt herum auf der Suche nach dem nächsten Schuss. Für sie war das ihr Alltag, die Routine. Und wir wissen, wie schwer es einem fällt, von Routinen abzulassen. Unabhängig davon, wie schrecklich und zerstörerisch sie sind. Man weiß genau, wie furchtbar alles ist, dass die eigene Schwester in der Innenstadt Geld für Drogen klaut, ihre Sozialarbeiter nicht mehr zurückruft … aber man geht morgens brav weiter seiner Arbeit als Lehrer nach, isst abends mit seiner Familie und bastelt danach anseinem Haus herum und versucht verzweifelt, nicht so viel darüber nachzudenken.« Er senkte den Blick. »Entweder versucht man, diesen Menschen zu vergessen oder ihn zu suchen. Mein Vater hat sie oft Abende lang gesucht, bevor er zu krank wurde. Ich habe auch gesucht. In den Straßen, auf den Plätzen, in den U-Bahn-Stationen und in der psychiatrischen Notaufnahme. Es dauerte nicht lange, bis wir wussten, wo es sich lohnte, nach ihr zu suchen.«
    Er verstummte. In seiner Erinnerung war er zurück in der Großstadt, umgeben von Obdachlosen, Säufern und Drogenabhängigen, umgeben von den Einsamen und Halbtoten, die durch die Nacht irrten.
    »Das hat bestimmt sehr viel Kraft gekostet«, sagte Gerlof leise.
    »Ja … aber ich war nicht jeden Abend unterwegs. Ich hätte öfter nach ihr suchen können, müssen.«
    »Sie hätten auch ganz aufgeben können!«
    Joakim nickte bedrückt. Es lag ihm noch eine Sache über Ethel auf dem Herzen, aber darüber zu sprechen fiel ihm am schwersten.
    »Vor zwei Jahren etwa war dann der Anfang vom Ende. Ethel hatte den Winter in einem Therapiezentrum verbracht, und alles sah gut aus. Als sie dort eingeliefert worden war, hatte sie nur noch fünfundvierzig Kilo gewogen, ihr Körper war übersät mit blauen Flecken. Als sie nach Stockholm zurückkehrte, sah sie viel besser aus. Drei Monate lang hatte sie keinerlei Drogen konsumiert und sogar etwas zugenommen. Sie ist dann in unser Gästezimmer eingezogen. Und das lief auch sehr gut. Auf Gabriel durfte sie zu Anfang nicht aufpassen, aber sie hat abends viel mit Livia gespielt. Sie mochten einander sehr.«
    Er erinnerte sich an das Gefühl von aufkeimender Hoffnung. Ihr Vertrauen zu Ethel war wieder gewachsen. Sie wagten es zwar nicht, Leute einzuladen, wenn sie zu Hause war. Aber sie hatten begonnen, abends lange Spaziergänge zu unternehmen, während Ethel auf die Kinder aufpasste. Und es war nie ein Problem gewesen.
    »Eines Abends im März sind Katrine und ich ins Kino gegangen«, erzählte er weiter. »Als wir einige Stunden später zurückkamen, war das Haus dunkel und leer. Nur Gabriel lag in seinem Bettchen und schlief in einer völlig durchnässten Windel. Ethel war abgehauen und hatte zwei Sachen mitgenommen. Mein Handy und Livia.« Er schloss für einen Moment die Augen. »Ich wusste sofort, wo sie hingefahren sein musste. Die Sucht hatte sich wieder gemeldet, so stark wie zuvor, und sie war mit der U-Bahn in die Stadt gefahren. Sie wollte sich Stoff beschaffen. Das hatte sie schließlich schon so oft getan. Sich eine Dosis für fünfhundert Kronen besorgt, sich auf irgendeiner Toilette den Schuss gesetzt und sich dann ein paar Stunden ausgeruht. Bis zum nächsten … Das einzige Problem war, dass sie Livia bei sich hatte.«
    Die Erinnerung an diesen Abend übermannte Joakim, die Erinnerung an die aufsteigende Panik. Er hatte sich sofort ins Auto gesetzt und war

Weitere Kostenlose Bücher