Nebelsturm
hatte.
Martin war auch ausgestiegen und kam auf Tilda zu.
»Den Typen, den du abholen sollst … soll der sich hier aufhalten?«
Sie nickte stumm. Am liebsten wollte sie überhaupt nicht mit ihm reden.
Mit selbstsicheren Schritten ging er auf die Bootshäuser zu. Er schien vergessen zu haben, dass er Lehrer war und nicht mehr Polizist.
Aber Tilda schwieg und folgte ihm.
Ein rhythmisches Schlagen war zu hören – eine der Türen war offen und schlug im Wind gegen den Rahmen. Alle Schuhabdrücke führten dorthin.
Martin zog die Tür auf und schaute hinein.
»Ist das hier sein Bootshaus?«
»Ich weiß es nicht, aber das wird es wohl sein.«
Diebe haben immer Angst, selbst bestohlen zu werden, dachte Tilda. Die hängen sich vor ihre eigenen Türen am liebsten die größten Schlösser. Wenn Henrik Jansson vergessen haben sollte, das Bootshaus zu verriegeln, dann musste etwas Unvorhergesehenes geschehen sein.
Sie stellte sich neben Martin und sah in das dunkle Bootshaus. Dort stand eine Arbeitsbank, und an den Wänden hingen alte Netze und Fischerbedarf sowie Handwerkszeug, das war alles.
»Er ist nicht zu Hause«, stellte Martin fest.
Tilda antwortete darauf nicht. Sie hatte etwas auf dem Boden gesehen und beugte sich hinunter. Kleine Tropfen glänzten auf den Holzbrettern.
»Martin!«, rief sie.
»Was sagst du dazu?«
Er kniete sich hin.
»Frisches Blut!«, sagte er.
Tilda ging vor die Tür und suchte nach Spuren. Jemand war verletzt, vielleicht angeschossen worden, oder er hatte eine Schnittwunde. Offensichtlich aber war er in der Lage gewesen, sich fortzubewegen.
Sie lief hinunter zu den Strandwiesen, dort war es noch windiger und kälter. Überall fand sie verwischte Spuren von Stiefeln – sie führten wie an einer langen Perlenschnur am Strand entlang nach Norden.
Tilda wollte den Spuren folgen, trotz des starken Windes undder unwirtlichen Kälte, aber die Abdrücke würden ohnehin bald von neuem Schnee verdeckt sein.
In vertretbarer Entfernung gab es lediglich zwei Höfe: den Bauernhof der Familie Carlsson und nordöstlich davon Hof Åludden bei den Doppelleuchttürmen. Henrik Jansson oder wem die Spuren auch gehören mochten, schien auf dem Weg zu einem der beiden Höfe zu sein.
Eine kräftige Windböe stieß Tilda beinahe um. Sie stapfte zurück zum Wagen.
»Wo willst du hin?«, rief ihr Martin hinterher.
»Das ist geheim!«, antwortete sie.
Sie stieg ein, ohne sich zu ihm umzudrehen. Dann schaltete sie den Polizeifunk ein und rief die Zentrale an. Sie wollte ihren Verdacht melden, dass bei den Bootshäusern aller Wahrscheinlichkeit nach eine Handgreiflichkeit mit Körperverletzung stattgefunden hatte. Und sie wollte ihr Vorhaben mitteilen, dass sie weiter nach Norden fahren würde, um den Spuren zu folgen.
Aber in der Zentrale meldete sich keiner.
Der Schneefall hatte an Dichte zugenommen. Tilda startete den Motor, drehte die Heizung auf maximale Temperatur und schaltete die Scheibenwischer ein, bevor sie sich langsam von den Bootshäusern entfernte.
Im Seitenspiegel sah sie, wie die Innenbeleuchtung des Mazdas anging, als Martin die Tür öffnete. Die Scheinwerfer leuchteten auf, er folgte ihr.
Tilda gab Gas – erst dann sah sie aus dem Fenster und entdeckte, dass der Horizont vollkommen verschwunden war. Eine grauweiße Wand aus Schnee hing über dem Meer. Und die bewegte sich immer näher auf die Küste zu.
29
E s dämmerte. Joakim stand in der Küche am Fenster und sah, wie der Schneefall immer dichter wurde. Sie würden weiße Weihnachten auf Åludden feiern.
Sein Blick wanderte zum Scheunentor. Das war geschlossen, und es führten auch keine Fußspuren dorthin. Seit dem gestrigen Abend hatte er dem Dachboden keinen Besuch mehr abgestattet, aber er konnte nicht aufhören, an den verborgenen Raum zu denken.
Ein Ort für die Toten, mit Kirchenbänken.
Ethels Jacke hatte er ordentlich zusammengelegt auf einer der Bänke gefunden, neben anderen Erinnerungsstücken anderer Verstorbener. Er hatte sie liegen lassen.
Katrine hatte sie dorthin gelegt. Sie musste den Raum entdeckt und dann die Jeansjacke auf eine der Bänke platziert haben, ohne ihm davon zu erzählen. Er hatte noch nicht einmal gewusst, dass Katrine im Besitz dieser Jacke gewesen war.
Seine Frau hatte also Geheimnisse vor ihm gehabt.
Beim nächsten Telefonat mit seiner Mutter erfuhr er, dass sie Katrine die Jacke geschickt hatte. Bis dahin hatte er angenommen, seine Mutter habe alle Kleidungsstücke
Weitere Kostenlose Bücher