Nebelsturm
Leben in seinen Körper zurück.
Er zuckte zusammen, der Türgriff wurde nach unten gedrückt, und die Tür öffnete sich.
Sie flog auf, wurde vom Sturm aufgerissen. Und Tommy schoss hinterher, landete in der Schneewehe, rappelte sich auf und stürmte weiter.
Tilda stürzte ihm nach. In etwa zehn Meter Entfernung sah sie schwankende Baumstämme, ein Wäldchen.
»Tommy!«, schrie sie. »Bleiben Sie stehen!«
Ihre Stimme wurde vom Wind verschluckt, Tommy blieb nicht stehen. Er rief ihr etwas über die Schulter zu und floh in Richtung Wald.
Tilda feuerte einen Warnschuss in den Himmel ab, dann kniete sie sich hin. Sie zielte und behielt den Finger auf dem Abzug.
Sie würde seine Beine treffen können, das wusste sie. Aber sie war einfach nicht in der Lage, einen Flüchtigen von hinten anzuschießen.
Tommy hatte bereits die Sträucher am Waldrand erreicht. Dort lag weniger Schnee, und er konnte noch schneller laufen. Noch fünfzehn oder zwanzig Schritte, dann wurde er zu einem grauen Schatten und verschwand schließlich im Wald.
Verdammt.
Minutenlang stand Tilda unschlüssig vor der Scheune, konnte aber nichts erkennen, außer den Wirbeltänzen der Schneeflocken. Der Wind hatte noch nicht nachgelassen, aber erst als ihre Finger taub wurden, wandte sie dem Wald den Rücken zu. Sie ging zurück und holte das Mausergewehr.
Sie entschied sich, außen an der Scheune zurückzugehen, obwohl der Wind und die Kälte sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatten. Aber sie wollte nicht Gefahr laufen, jemandem in dem schwarzen Raum zu begegnen.
40
D as Löschen des Feuers mit Schnee hatte keine Schwierigkeiten bereitet. Als aber Joakim die letzte Flamme erstickt hatte, sah er, dass beinahe die gesamte Treppe verkohlt war. Und in der Scheune hingen dicke, graue Rauchschwaden.
Joakim musste husten und setzte sich neben die schwelende Treppe auf den Boden. In den Händen hielt er noch die Schneeschaufel.
Er hatte keine Kraft mehr, sich Gedanken zu machen. Keine Kraft zu überlegen, woher die vielen ungebetenen Gäste an diesem Abend kamen oder was vorhin im verborgenen Raum mit den Kirchenbänken geschehen war.
Hatte er Katrine tatsächlich getroffen? Hatte sie zugegeben, seine Schwester umgebracht zu haben?
Nein. Katrine hatte kein Wort gesagt.
Joakims Blick fiel auf den großen Mann, der auf dem Boden lag. Er wusste weder, wer der junge Mann war, noch, warum er Handschellen trug. Aber aus der Tatsache, dass Tilda Davidsson ihn festgenommen hatte, ließen sich einige Schlussfolgerungen ziehen.
Während er so dasaß, hatte er den Eindruck, erneut Schüsse vor der Scheune zu hören.
Als es jedoch still blieb, wandte er sich an den Gefesselten.
»Haben Sie diesen Quatsch hier gemacht?«
Erst nach sekundenlangem Schweigen kam die Antwort:
»Tschuldigung!«
Joakim seufzte.
»Jetzt muss ich eine neue Treppe zum Heuboden bauen … irgendwann.«
Er lehnte sich an die Wand. Da fielen ihm plötzlich seine Kinder ein. Livia und Gabriel waren ganz allein im Haus.
Wie hatte er sie nur so lange dort allein lassen können?
Etwas scharrte hinten am Scheunentor, er drehte sich um und sah, wie Tilda hereingestolpert kam, eingehüllt von Schnee. In der einen Hand hielt sie ihre Pistole, in der anderen ein altes Jagdgewehr.
Sie ließ sich an der Holzwand zu Boden gleiten und schnaufte.
»Er ist entkommen«, stöhnte sie.
Freddy sah vom Boden auf.
»Entkommen?«, wiederholte Joakim.
»Er ist in den Wald hinter dem Hof gerannt«, berichtete Tilda. »Einfach im Dunkeln verschwunden. Aber wenigstens hat er kein Gewehr mehr.«
Joakim stand auf.
»Ich muss rüber und nach meinen Kindern sehen«, sagte Joakim. »Kommen Sie hier erst einmal allein zurecht?«
Tilda nickte mit hängendem Kopf.
»Wenn Sie durch die Veranda ins Haus gehen … werden Sie dort auf weitere Personen treffen. Zwei Männer.«
»Verletzte?«, fragte Joakim.
»Einer ist verletzt … und einer ist tot.«
Joakim stellte keine weiteren Fragen. Als er sich zum Gehen wandte und ihr noch einen Blick zuwarf, hatte sie bereits ihr Handy herausgeholt und eine Nummer gewählt.
Da stand er schon draußen im Innenhof, umgeben von geschwungenen Schneewehen, und lief mit gesenktem Kopf zum Wohnhaus. Åludden wirkte in dieser Nacht nicht so groß wie sonst, die Gebäude schienen sich wie ein Rudel Hunde aus Angst vor dem Nebelsturm zu ducken. Die wütenden Attacken des Windes rissen Dachziegel vom First, die in die Luft gewirbelt wurden und in der Dunkelheit
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