Nebelsturm
bedeuten?«
Der Pfarrer sah ihn verständnislos an.
»Mehrere hundert Kilometer entfernt … wie sollte man da etwas hören können?«
Joakim schüttelte den Kopf.
»Aber es war so«, sagte er. »Ich habe meine Frau gehört, ich habe Katrine gehört, als sie starb. Ich war zu dem Zeitpunkt in Stockholm, aber ich habe sie gehört, als sie ertrank. Sie hat nach mir gerufen.«
Der Pfarrer sah in seine Kaffeetasse.
»Vielleicht haben Sie jemand anders rufen hören?«
Er senkte seine Stimme, als würden sie über etwas Verbotenes sprechen.
»Nein«, entgegnete Joakim mit fester Stimme. »Es war Katrine.«
»Ich verstehe.«
»Ich weiß , dass ich sie gehört habe«, sagte Joakim. »Was hat das zu bedeuten?«
»Wer weiß, wer weiß«, war Högströms Antwort, dabei klopfte er Joakim vorsichtig auf die Schulter. »Sie müssen sich jetzt ausruhen, Joakim. Wir können uns in ein paar Tagen noch einmal darüber unterhalten.«
Dann wandte er sich ab und ging.
Joakim blieb wie angewurzelt stehen und starrte an die Wand auf ein Plakat, auf dem eine Spendenkampagne für die Strahlenopfer von Tschernobyl angekündigt wurde. Zum zehnten Mal jährte sich diese Katastrophe.
Unser tägliches Brot für die Strahlenopfer , lautete die Überschrift.
Unser tägliches Tschernobyl, dachte Joakim.
Endlich wurde es Abend, und er war zurück auf Åludden. Dieser schier unendlich lange Tag würde bald ein Ende haben.
Livia und Gabriel wurden von ihrer Großmutter ins Bett gebracht. Lisa und Michael Hesslin standen neben ihrem Wagen, es war spät, und sie hatten noch eine lange Fahrt zurück nach Stockholm vor sich, waren aber trotzdem nach der Kirche mit auf den Hof gekommen.
»Vielen Dank, dass ihr gekommen seid«, sagte Joakim.
»Das ist doch selbstverständlich«, erwiderte Michael und legte seinen schwarzen Anzug auf den Rücksitz des Wagens.
Sie schwiegen, ein angespanntes Schweigen.
»Komm uns bitte bald in Stockholm besuchen«, brach Lisa schließlich die Stille. »Oder fahr mit den Kindern nach Gotland, in unser Sommerhaus.«
»Vielleicht mache ich das.«
»Wir bleiben in Kontakt, Joakim«, verabschiedete sich Michael.
Joakim nickte. Gotland klang besser als Stockholm. Er wollte nie wieder dorthin fahren.
Lisa und Michael stiegen ein, und Joakim trat einen Schritt zurück und sah ihrem Wagen hinterher.
Kaum war das Auto auf die Landstraße abgebogen und die Autoscheinwerfer nicht mehr zu sehen, drehte sich Joakim um und sah hinunter zu den Leuchttürmen.
Draußen auf seiner kleinen Insel stand der Südturm und sendete sein rotes Licht über das Wasser. Der Nordturm, Katrines Turm, war nur ein schwarzer Pfeiler in der Dunkelheit. Er hatte dort nur ein einziges Mal Licht gesehen.
Nach kurzem Zögern fand er den Weg, der zum Strand hinunterführte und den er an den vergangenen Wochenenden oft mit Katrine und den Kindern entlanggelaufen war.
Er hörte das Meer in der Dunkelheit rauschen und spürte den eiskalten Wind im Gesicht. Vorsichtig näherte er sich dem Wasser, stieg über die Grasbüschel am Strand, folgte dem schmalen Sandstreifen und erreichte dann die großen Steinblöcke, die als Wellenbrecher für die Leuchttürme aufgeschüttet worden waren.
Für Joakim klangen die Wellen wie langsame Atemzüge. Wie Katrine, wenn sie miteinander schliefen – wenn sie ihn zu sich aufs Bett gezogen, ihn fest umklammert und ihm ins Ohr gestöhnt hatte.
Sie war die Stärkere von ihnen gewesen. Katrine hatte entschieden, nach Öland zu ziehen.
Joakim erinnerte sich genau an die Schönheit, die sie empfangen hatte, als sie das erste Mal auf der Insel zu Besuch waren. Es war ein klarer, sonniger Frühlingstag Anfang Mai gewesen, undder Hof mit dem glitzernden Wasser der Ostsee im Hintergrund hatte ausgesehen wie ein Schlösschen aus Holz.
Nachdem sie alle Gebäude besichtigt hatten, waren sie Hand in Hand den schmalen Weg durch ein Meer blühender Buschwindröschen gelaufen.
Unter dem hohen, weiten Himmel wirkten die flachen Inseln vor der Küste im Norden wie magische, mit frischem Gras bedeckte Objekte im Wasser. Überall waren Vögel zu sehen: Scharen von Grauschnäppern, Austernfischern und trillernder Lerchen. Kleine Gruppen schwarzweißer Reiherenten hatten sich am Fuß der Leuchttürme versammelt, und näher am Strand schwammen Stockenten und Haubentaucher.
Joakim erinnerte sich genau an Katrines Gesichtsausdruck im strahlenden Sonnenschein.
Oh, ich möchte am liebsten für immer hierbleiben , hatte sie
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