Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebelsturm

Nebelsturm

Titel: Nebelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
Vom Netzwerk:
die Flasche in den Turm zurück. Dann machen sie sich wieder auf den Weg und stapfen nach Norden, Richtung Rörby.
    Fünfzehn Minuten später finden sie das Mädchen.
    Aus der schneebedeckten Fläche nördlich des Opfermoores ragt etwas hervor, das aussieht wie der Baumstumpf einer Birke. Eskil geht darauf zu, um es besser sehen zu können.
    Da erkennt er, dass eine kleine Hand aus dem Schnee ragt.
    Greta Friberg war fast in Rörby angekommen, als der Schnee sie überwältigte. Unter dem Schnee, den sie wegfegen, zeigt ihr erstarrtes Gesicht in den Himmel. Sogar ihre Augen sind mit Eiskristallen bedeckt.
    Eskil kann nicht aufhören, sie anzuschauen. Er kniet nieder.
    Ludvig steht hinter ihm und raucht.
    »Ist sie das?«, fragt Eskil leise.
    Ludvig schnippt die Asche von der Zigarette und beugt sich vor, um einen kurzen Blick auf sie zu werfen.
    »Ja, das ist die Greta.«
    »Sie war mit dir zusammen, nicht wahr? Gestern im Turm?«, fragt Eskil.
    »Vielleicht«, antwortet Ludvig und fügt dann hinzu: »Ich muss wohl etwas flunkern, wenn ich dem Ofen Bericht erstatte.«
    Eskil steht auf.
    »Lüg mich nicht an, Ludvig«, sagt er.
    Ludvig zuckt mit den Schultern und tritt die Zigarette aus.
    »Sie wollte nach Hause. Sie hat gefroren und hatte tödliche Angst davor, die Nacht über mit mir im Turm zu bleiben. Also ist sie in ihre Richtung in den Sturm gegangen und ich in meine.«
    Eskil schaut ihn fassungslos an, dann zeigt er auf den Körper im Schnee.
    »Wir müssen Hilfe holen. Hier können wir sie nicht liegen lassen.«
    »Wir nehmen den Schlitten«, sagt Ludvig. »Damit können wir sie transportieren. Lass uns ihn holen.«
    Er dreht sich um und geht zurück zum Hof. Eskil geht einige Schritte rückwärts, um der Toten nicht zu schnell den Rücken zuzukehren. Dann holt er Ludvig ein.
    Schweigend stapfen sie nebeneinander durch den Schnee.
    »Wirst du ihren Namen in die Scheunenwand einritzen?«, fragt er. »So wie wir es bei Werner getan haben?«
    Werner war ein zwangsrekrutierter siebzehnjähriger Soldat gewesen, der im Sommer 1942 vor der Landzunge aus dem Boot ins Wasser gefallen und ertrunken war. Gretas Name sollte neben seinem an der Wand auf dem Scheunenboden stehen, findet Eskil. Aber Ludvig schüttelt nur den Kopf.
    »Ich kannte sie doch gar nicht.«
    »Aber …«
    »Es war ihre eigene Schuld«, sagt Ludvig. »Sie hätte bei mir im Turm bleiben können. Ich hätte sie schön warm gehalten.«
    Eskil erwidert nichts.
    »Aber es gibt ja zum Glück genug Mädchen in den Dörfern«, grinst Ludvig und schaut hinüber zu der anderen Seite des Opfermoores. »Das ist das Beste an den Mädchen, es gibt immer genug von ihnen.«
    Eskil nickt, kann aber jetzt nicht an Mädchen denken. Er denkt nur an die Toten.

DEZEMBER

18
    E in neuer Monat hatte begonnen, der Weihnachtsmonat, und es war Freitagnachmittag. Joakim war wieder auf den Dachboden in der eiskalten Scheune gestiegen und stand nun vor der Wand mit den Namen der Toten. In den Händen hielt er einen Hammer und ein frisch geschliffenes Stemmeisen.
    In einer Stunde würde er Livia und Gabriel abholen müssen, die Sonne sank bereits und warf Schatten in den Innenhof. Es war eine Art Belohnung, die er sich selbst gönnte, weil er mit den Renovierungsarbeiten so gut vorangekommen war.
    Hier oben auf dem stillen Dachboden zu sitzen war trotz der Kälte gemütlich, und er mochte es, die Namen an der Wand zu studieren. Natürlich wanderte sein Blick am häufigsten zu Katrines Namen, wieder und immer wieder, wie ein Mantra.
    Während er so viele Namen wie möglich auswendig lernte, begannen auch die Wände mit ihren Astlöchern und schlängelnden Jahresringen ihm immer vertrauter zu werden. Links unten in der Ecke verlief ein tiefer Riss durch eines der mittleren Bretter, und dieser interessierte Joakim schließlich so sehr, dass er ihn aus der Nähe betrachten wollte.
    Das Holz war entlang eines Jahresringes aufgeplatzt. Der Riss hatte sich in einer diagonalen Linie nach unten geweitet, und als er die Hand dagegenpresste, knackte das Holz und gab nach.
    Da war Joakim losgegangen und hatte das Werkzeug geholt.
    Jetzt platzierte er das Stemmeisen in den Riss, schlug mit demHammer darauf und sah, wie das scharfe Eisen durch das Holz drang.
    Er benötigte nicht mehr als zehn harte Hammerschläge gegen das Brett, um das Endstück zu lösen. Es fiel in den Spalt, und der dumpfe Aufprall, der zu hören war, bewies, dass der Holzfußboden auf der anderen Seite der Wand

Weitere Kostenlose Bücher