Nebelsturm
weiterführte. Aber was sich dahinter verbarg, konnte er nicht sehen.
Als Joakim sich bückte, um durch das zehn Zentimeter breite Loch zu spähen, schlug ihm ein bekannter Geruch entgegen. Er musste die Augen schließen und sich gegen die Wand lehnen.
Es roch nach Katrine.
Er kniete sich hin und streckte seine linke Hand in die Öffnung. Zuerst die Finger, dann das Handgelenk und schließlich den ganzen Unterarm. Er tastete umher, bekam aber nichts zu fassen.
Plötzlich stießen seine Finger gegen etwas Weiches. Es fühlte sich an wie ein rauer Stoff – wie eine Hose oder eine Jacke.
Hastig zog Joakim die Hand zurück.
Im gleichen Augenblick hörte er ein dumpfes Brummen, und die frostweißen Fenster der Scheune wurden von einem Lichtstrahl hell erleuchtet. Ein Auto fuhr auf die Hofeinfahrt.
Joakim warf einen letzten Blick auf die Öffnung in der Wand und verließ den Dachboden.
Auf dem Innenhof wurde er von Scheinwerfern geblendet. Eine Tür schlug zu.
»Hallo, Joakim!«
Es erkannte die forsche Stimme sofort. Es war Marianne, die Leiterin der Vorschule.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie besorgt.
Er starrte sie verwirrt an, schob den linken Ärmel seiner Jacke hoch und schaute auf die Uhr. In dem Scheinwerferlicht sah er, dass es schon halb sechs war.
»Es tut mir so leid … ich habe vergessen, auf die Uhr zu sehen.«
»Ist schon in Ordnung«, beruhigte ihn Marianne. »Ich habe mir nur Sorgen gemacht, dass etwas passiert sein könnte. Ich habe versucht anzurufen, aber es hat niemand abgenommen.«
»Ja, ich bin … in der Scheune gewesen und habe gewerkelt.«
»Manchmal ist das einfach so«, sagte Marianne und lächelte.
»Vielen Dank«, sagte Joakim. »Vielen Dank, dass Sie die Kinder nach Hause gebracht haben.«
»Keine Ursache, ich wohne ja in Rörby.« Marianne hob die Hand zum Gruß und ging zurück zu ihrem Auto. »Wir sehen uns am Montag.«
Joakim ging mit schlechtem Gewissen ins Haus. Er hörte Stimmen aus der Küche.
Livia und Gabriel hatten schon Stiefel und Jacken ausgezogen und sie auf den Boden geworfen. Jetzt saßen sie am Küchentisch und teilten sich eine Mandarine.
»Papa, du hast vergessen, uns abzuholen«, sagte Livia, als er hereinkam.
»Ich weiß«, antwortete er leise.
»Marianne musste uns nach Hause fahren.«
Sie hörte sich nicht ärgerlich an, vielmehr erstaunt über die Unterbrechung des gewohnten Tagesablaufs.
»Ich weiß«, sagte er leise. »Das habe ich nicht gewollt.«
Gabriel aß seinen Teil der Mandarine und schien sich nicht weiter für das Gespräch zu interessieren. Livia aber warf ihrem Vater einen langen Blick zu.
»Jetzt essen wir«, sagte Joakim nervös und verschwand eilig in der Speisekammer.
Pasta mit Thunfischsoße war ein absolutes Lieblingsessen, er setzte Nudelwasser auf und bereitete die Soße zu. Immer wieder wanderte sein Blick durch das Küchenfenster nach draußen.
Die Scheune erschien ihm wie eine schwarze Burg auf der anderen Seite des Innenhofs.
Sie hütete ein Geheimnis. Einen verborgenen Raum ohne Tür.
Einen Raum, der einen Augenblick lang von Katrines Geruch erfüllt gewesen war. Joakim war sicher, dass er sie gerochen hatte; der Geruch war durch das Loch in der Wand geströmt, und er war völlig hilflos gewesen.
Er wollte unbedingt in diesen Raum, aber dazu müsste er diedicken Holzbretter mit Säge oder Brecheisen bearbeiten. Dabei würden aber die eingeritzten Namen zerstört werden, und das wollte Joakim auf gar keinen Fall. Er hatte viel zu große Ehrfurcht vor den Toten.
Als die Temperatur unter den Gefrierpunkt sank, kroch die Kälte langsam ins Haus. In den Zimmern des Erdgeschosses verließ sich Joakim auf die Heizkörper und die Kachelöfen, aber es zog am Boden und an einigen Fenstern. An besonders windigen Tagen versuchte er, die Quellen des Luftzuges am Boden und an den Wänden aufzuspüren. Er hob die Fußbodenleisten an und verschloss die Ritzen zwischen den Holzplanken mit Dichtungsmaterial.
Am ersten Wochenende im Dezember hielt sich die Temperatur bei etwa fünf Grad unter Null, solange die Sonne schien, sank abends aber bis auf zehn Grad minus. Sonntagmorgen sah Joakim durch das Küchenfenster und sah, dass sich auf dem Meer eine Art Haut, eine Schicht aus schwarzem Eis, gebildet hatte. Es war mehrere hundert Meter ins offene Meer hinausgewachsen, es hatte die Landzungen umrundet und sich dann auf den Weg zum Horizont gemacht.
»Vielleicht können wir bald über das Wasser bis nach Gotland
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