Nebelsturm
laufen«, sagte er zu den Kindern beim Frühstück.
»Was ist Gotland?«, fragte Gabriel.
»Das ist eine große Insel weit draußen in der Ostsee.«
»Können wir dort wirklich zu Fuß hingehen?«, fragte Livia.
»Nein, es war nur Spaß«, sagte Joakim schnell. »Es ist viel zu weit.«
»Aber ich will!«
Man konnte sich mit Sechsjährigen keine Späße erlauben – sie nahmen alles wortwörtlich. Joakim schaute aus dem Fenster und stellte sich vor, wie Livia und Gabriel über das schwarze Eis weiter und immer weiter hinausgingen. Dann plötzlich brach das Eis unter ihnen, ein schwarzes Loch tat sich auf, und sie wurden in die Tiefe gezogen …
Er drehte sich zu Livia um.
»Ihr beide dürft niemals alleine aufs Eis hinausgehen. Nie und nimmer. Man weiß nie, ob das Eis einen trägt.«
Abends rief Joakim seine ehemaligen Nachbarn in Stockholm an, Lisa und Michael Hesslin. Er hatte seit der Nacht ihrer überstürzten Abreise von Åludden keine Silbe mehr von ihnen gehört.
»Hallo, Joakim«, sagte Michael. »Bist du in Stockholm?«
»Nein, wir sind auf Öland. Wie geht es euch?«
»Es ist alles in Ordnung. Schön, dich zu hören.«
Doch Joakim hatte den Eindruck, dass Michael etwas verhalten klang. Vielleicht war ihm peinlich, was geschehen war.
»Geht es dir gut?«, fragte Joakim. »Und der Firma?«
»Doch, doch, alles prima«, antwortete Michael. »Viele spannende Projekte. Es ist ein bisschen stressig jetzt vor Weihnachten.«
»Schön … Ich wollte nur hören, ob alles in Ordnung ist. Wir haben ja letztes Mal ziemlich abrupt Abschied genommen.«
»Ja.« Michael zögerte mit seiner Antwort. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was da los war … ich wurde mitten in der Nacht wach und konnte nicht mehr einschlafen …«
Er verstummte.
»Lisa meinte, du hättest einen Albtraum gehabt«, sagte Joakim. »Du hättest geträumt, dass jemand an deinem Bett stand?«
»Hat sie das gesagt? Ich kann mich ja nicht erinnern.«
»Du kannst dich nicht erinnern, wen du gesehen hast?«
»Nee.«
»Ich habe bisher noch nichts Sonderbares auf dem Hof gesehen«, sagte Joakim, »aber ich habe so Sachen gespürt. Und draußen in der Scheune habe ich eine Wand auf dem Dachboden gefunden, wo Menschen …«
»Und die Renovierung?«, unterbrach ihn Michael. »Wie geht es damit voran?«
»Wie bitte?«
»Bist du mit dem Tapezieren fertig geworden?«
»Nein … noch nicht ganz.«
Joakim verlor den Faden und begriff schnell, dass Michael gar keine Lust hatte, mit ihm über sonderbare Ereignisse oder unangenehme Träume zu sprechen. Was immer er in dieser Nacht erlebt hatte, er hatte die Tür zu der Erinnerung zugeschlagen und abgeschlossen.
»Was macht ihr denn an Weihnachten?«, fragte Joakim stattdessen. »Feiert ihr zu Hause?«
»Wir werden wohl ins Häuschen fahren«, antwortete Michael. »Aber zum Jahreswechsel wollen wir wieder zu Hause sein.«
»Dann sehen wir uns vielleicht.«
Das Gespräch war bald darauf beendet. Als Joakim den Hörer aufgelegt hatte, wanderte sein Blick aus dem Küchenfenster hinaus zu der Haut aus Eis zwischen dem Meer und dem leeren Strand. Diese gefrorene Einsamkeit ließ ihn das Gewühl in den Straßen Stockholms vermissen.
»Es gibt einen verborgenen Raum auf dem Hof«, erzählte Joakim seiner Schwiegermutter. »Einen Raum ohne Tür.«
»Aha? Wo denn?«
»Auf dem Scheunenboden. Er muss groß sein … ich habe das abgemessen, und der Fußboden dort oben endet fast vier Meter vor der Außenwand.« Er schaute Mirja an. »Du weißt nichts davon?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Mir reicht die Wand mit den vielen Namen. Das ist aufregend genug.«
Mirja goss Joakim heißen, dampfenden Kaffee ein. Dann hob sie eine Flasche Wodka hoch und fragte:
»Russischer Kaffee gefällig?«
»Vielen Dank, ich trinke keinen Schnaps und …«
Mirja lachte kurz.
»Ich nehme dann auch deine Portion«, sagte sie und goss sich den Wodka in die Tasse.
Mirja wohnte in einer großen Wohnung direkt an der Domkirchein Kalmar. Sie hatte die Familie zum Abendessen eingeladen.
Livia und Gabriel durften endlich ihre Großmutter kennenlernen. Sie verhielten sich zunächst sehr still und abwartend. Livia warf einer weißen Marmorstatue, die in der Ecke stand und einen nackten Männertorso darstellte, einen misstrauischen Blick zu. Es dauert eine Weile, ehe sie anfing zu reden. Sie hatte Foreman und zwei Bären dabei und stellte alle drei ihrer Großmutter vor. Mirja nahm sie mit in ihr Atelier, in
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