Neben Der Spur
solchen Träumen erwacht er mit klopfendem Herzen. Ein paar Sekunden, dann weicht das Entsetzen immer der Erleichterung, die Welt duftet nach Bettwärme, die Vögel singen …
Diesmal weicht das Entsetzen nicht. Es ist kein Traum. Valentin liegt auf einer nach Lösungsmitteln stinkenden Plastikfolie, ist an Händen und Füßen gefesselt, hat einen Knebel im Mund, die Augen verbunden. Hat ihn jemand gekidnappt? Wer? Warum?
Das Letzte, woran er sich klar erinnert, ist der Schlag, ein Schlag auf seinen Kopf. Zuvor im Augenwinkel ein Schatten, ein Arm, der in einem unförmigen Handschuh mündete, einem Arbeitshandschuh wie vom Baumarkt. Und davor Valentins Schritte auf die Treppe zu. Der erstickte Schrei aus dem Keller. Seine Sorge um Rolf.
Rolf! Bestimmt haben sie ihn auch gekidnappt. Dann muss er hier irgendwo sein. Valentin nimmt einen tiefen Atemzug durch die Nase, stößt die Luft mit aller Macht wieder aus, lässt seine Stimmbänder schwingen, es gelingt ihm, ein heiseres Brummen in die Schwärze zu schicken. Dann hält er die Luft an, lauscht.
Keine Antwort. Vielleicht ist Rolf ohnmächtig, vielleicht wird er anderswo gefangen gehalten … Vielleicht ist Rolf tot.
Valentin schiebt die Angst beiseite. Angst ist unproduktiv. Weiter rückwärtsdenken!
Was war vor Rolfs Schrei? Ein Geräusch aus dem Keller! Jedenfalls hatte Rolf was gehört, hatte vermutet, ein Fenster sei offen geblieben und klappere im Luftzug. Rolf war aus dem Zimmer gegangen, um nachzusehen … Davor Valentins letzte Mahlzeit, die Avocado, das Bier, der Doppelkorn, ein wohliger kleiner Rausch … Und davor die Dusche, die Mail an Gudrun … die Fahrt zu Rolfs Villa … ein alter blauer Fiat, der ihnen zu folgen schien. Dann doch nicht zu folgen schien.
Kevin fährt so ein Auto. Aber der ist ein Feigling. Und so ein Schwächling! Viel kleiner als Valentin und noch magerer. Er könnte jemanden dabeigehabt haben. Valentin hat ja den Wagen nicht sehen können. Wie viele saßen drin? Warum, verdammt, warum hat er Rolf nicht gefragt!
Valentin liegt schon zu lange auf der linken Seite, der Arm kribbelt wie von Ameisen gebissen. Valentin wuchtet sich auf seinem Lager herum, auf den Bauch, auf die andere Seite … Sofort schmerzt der rechte Arm wie wund. Das lässt sich besser aushalten als das Ameisenlaufen.
Eine Wunde am rechten Arm? Valentin dämmert was. Zwischen dem Schlag auf den Kopf und dem Erwachen hatte er noch eine Empfindung. Genestel. Jemand hat ihm den Ärmel aufgekrempelt, den rechten, ihm einen Stich verpasst. Eine Spritze vielleicht, eine Dröhnung, ein Schlafmittel. Dann ein Zerren an beiden Schultern, Geholper seiner Fersenkuppen über einen unebenen Fußboden. Kein Gesicht, kein Wort, aber einen penetranten Geruch nach Desinfektionsmitteln konnte Valentin ausmachen. Eine zuschlagende Autotür. Schwärze, undurchdringliche Schwärze, dann nichts mehr. Doch. Jemand hat ihm was eingetrichtert. Was zu trinken. Was Süßliches. Dann wieder eine Erinnerungslücke … Wie lange liegt er hier? Stunden? Tage?
Und wer macht so was? Seine Freunde von der FFA? Vor ein paar Wochen haben sie zusammen in der Wohnung in Offenbach gehockt und über Gewalt gegenüber Menschen diskutiert, weil die internationalen Statuten das klar verbieten. – Einer, der aus Aschaffenburg angereist kam, Mulle genannt werden wollte und Apfelsaft trank, war anderer Meinung. Wenn man Tiere verteidigen wolle, müsse man eben manchmal Menschen Schaden zufügen, hat er gesagt und mit den Achseln gezuckt.
Aber nur Leute, die Tiere einsperren und quälen, die dürfe man »spezialbehandeln«, hatte Kevin erklärt. Damit sie nämlich die Qual ihrer Opfer mitvollziehen lernten und damit aufhörten.
Alle hatten genickt, bis auf diesen Molle. Der faselte was von unschuldigen Opfern, die man in Kauf nehmen müsse, wenn man was erreichen wolle. Schließlich seien die Tiere auch unschuldige Opfer, hat er argumentiert.
Was Valentin nicht ganz logisch fand. Trotzdem hat er geschwiegen. Jetzt schämt er sich dafür. Manchmal ist er so feige!
Vielleicht betrachten sie Rolf als aktiven Tierquäler, »spezialbehandeln« ihn jetzt? Aber warum kidnappen sie auch Valentin? Er ist doch einer von ihnen. Fürchten sie, er könne sie verraten? Das würde er nie tun! Oder betrachten sie ihn als Opfer, das sie zum Beispiel brauchen, um die Firma Hepp zu erpressen? Valentin wird mit ihnen reden. Man braucht ihn nicht zu kidnappen. Er macht mit. Das wird er ihnen sagen, wenn sie kommen.
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