Nebenan: Roman
Stakkato der Lichtblitze wirkten die Bewegungen der Flüchtenden seltsam abgehackt und unnatürlich.
In einem letzten Kraftakt magischer Willensanstrengung brachte der Erlkönig das Bier in den Fässern unter der Decke zum Kochen und öffnete sämtliche Ventile der Zapfanlage. Bitter nach Hopfen stinkender Wasserdampf fauchte in die Kneipe und machte das Chaos vollkommen.
Man hätte nicht einmal unsichtbar sein müssen, um in diesem Durcheinander unbehelligt die Wirtschaft verlassen zu können. Einen Augenblick lang spielte der Elbenfürst mit dem Gedanken, seinen Ring wieder auf den Finger zu streifen. Doch Übermut kommt vor dem Fall! Er kroch unter dem Tisch hervor und mischte sich unter die Menge, die aus der engen Tür hinausquoll. Die Flüchtenden stießen ihn grob in die Rippen, traten auf seine Füße und merkten in ihrer Panik nicht einmal, wie sie jemanden anrempelten, den sie nicht sehen konnten.
Vor der Kneipe waren grellrote Unfallwagen aufgefahren. Kreisendes Blaulicht ließ die Gesichter der Polizisten und Studenten, die aus dem Nebenan kamen, noch blasser erscheinen. Der halbe Straßenzug lag im Dunkel. Sogar die Laternen waren auf gut zwanzig Meter rechts und links der Wirtschaft verloschen.
Der Elbenfürst zuckte gelassen mit den Schultern. Elektrizität war eine Kraft, die ihm noch sehr fremd war. Er würde in Zukunft ein wenig mit ihr herumexperimentieren. Augenscheinlich ließen sich einige sehr interessante Effekte hervorrufen, wenn man richtig mit ihr umzugehen verstand.
Grelle Scheinwerfer flammten auf einem Häuserdach auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf. Die Straße wurde auf beiden Seiten mit rotweißen Plastikbändern abgesperrt. Beamte in grünen Uniformen versuchten das Knäuel der Flüchtlinge zu entwirren. Irgendwo bellten Hunde.
Beunruhigt sah sich der Erlkönig um. Es war an der Zeit, zu verschwinden! Vorsichtig darauf bedacht, niemanden zu berühren, schlängelte er sich an einer Gruppe von Beamten mit durchsichtigen Schilden vorbei, die eine lockere Sperrkette bildeten. Ein paar Schritt weiter erreichte er das Plastikband, hinter dem sich immer mehr Neugierige versammelten. Etliche Kinder mit Laternen waren da und bestaunten mit großen Augen das Polizeiaufgebot.
Der Elbenfürst duckte sich an einem letzten Beamten vorbei und verschwand dann in der Menge.
*
»Das muss er sein! Gerade hat sich einer unter der Absperrung durchgeduckt!« Deutlich war die in Gelb- und Rottönen glühende Gestalt im Sucher zu erkennen. Nadine gab die Wärmebildkamera an Mike weiter. »Er ist der Einzige, der sich von der Absperrung fortbewegt. Alle anderen sind Gaffer!« Die Leibwächterin musterte die Straße. Ja! Er musste es sein! Mit bloßem Auge war niemand zu sehen, der sich in die Richtung bewegte wie die Gestalt, die sie gerade noch mit dem Sucher der Kamera erfasst hatte. »Hast du ihn, Mike?«
»Ich glaube ja. Er lässt sich Zeit, schlendert ganz gemütlich die Straße hinauf, als wäre nichts. Wir sollten den anderen Bescheid sagen.«
»Damit sie den Ruhm einheimsen? Nein! Ich geh runter und schnapp ihn mir! Wenn wir uns rehabilitieren wollen, müssen wir die Sache alleine durchziehen! Nimm dein Handy und ruf mich an. Du dirigierst mich hier oben vom Dach aus.«
»Aber …«
Nadine ignorierte Mikes Einwände. Wenn sie den Attentäter nicht verlieren wollten, mussten sie schnell handeln. Sie riss die Stahltür auf, die zum Treppenhaus führte, und hetzte zum Ausgang hinunter. Ihr Handy klingelte.
»Mike?«
Einen Augenblick tönte nur Rauschen aus dem Äther. »Nadine? Kommissar Ehrlicher hier. Kommen Sie doch bitte mit Ihrem Kollegen mal runter zur Einsatzleitung. Wir hätten da noch ein paar Fragen wegen der Aussage von Mike. Einiges stellt sich jetzt in einem anderen Licht …«
»Scheiße!«, fluchte die Leibwächterin und drückte das Gespräch weg. Fast sofort klingelte das Handy erneut.
»Nadine?« Diesmal war es Mikes Stimme. »Siehst du die drei Kinder mit den Laternen gut hundertzwanzig Meter vor dir? Eines der Kinder hat eine Sonnenlaterne.«
»Ja.«
»Unser Predator ist auf einer Höhe mit ihnen. Er biegt jetzt nach links ab. Ich werd ihn für eine Weile aus dem Blickfeld verlieren. Die Straße führt geradewegs auf den Marktplatz. Ich hoffe, ich werde ihn da wieder finden. Halt dich ran!«
Nadine rannte bis zur Straßenecke und verlangsamte dann ihre Schritte. Der Unsichtbare sollte nicht zu zeitig auf sie aufmerksam werden. Die Gasse vor ihr war von
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