Nebenan: Roman
»Wenn ich allerdings deinen allgemeinen Zustand betrachte, fürchte ich, dass jenes Teil, das wohl im Mittelpunkt der Abendunterhaltung stehen sollte, schon vor einer ganzen Weile abgefallen ist.«
Das, was von Eriks Gesicht noch übrig war, wechselte die Farbe von Leichenblass zu Schimmelgrau. »Ich …«, stammelte er, fand aber keine weiteren Worte.
Zufrieden drehte sich Knuper um und trat durch den eiszapfenverhangenen Höhleneingang. Seit dem Treffen mit der Morrigan fühlte sie sich so beschwingt, wie sie es seit ihrer Auseinandersetzung mit dem üblen Macho Rübezahl nicht mehr gewesen war, und ihre übliche Nachmittagsmelancholie war überschäumendem Tatendrang gewichen. Sonst hätte sie sich auch niemals in dieser aasigen Kälte auf ihren Hexenbesen geschwungen, um das Thing der Dunklen zu besuchen.
Aus der Höhle vor ihr klang aufgeregtes Gemurmel. Es hörte sich ganz so an, als gäbe es dort einen handfesten Streit. Sicher hatte der alte Drache wieder einen seiner cholerischen Anfälle. Einen Augenblick zögerte sie und überlegte, ob sie nicht lieber wieder umkehren sollte. Doch dann entschied sie sich zu bleiben. Schließlich hatte sie mit dem Streit ja nichts zu tun und dem Alten zuzusehen, wie er herumtobte, konnte vielleicht ganz amüsant sein. Außerdem war es besser, sich erst einmal vor einer Pfanne mit glühenden Kohlen die Knochen zu wärmen, bevor sie sich bei diesem Scheißwetter wieder auf den Besen schwang.
Als Knuper die letzte Biegung des Tunnels hinter sich gebracht hatte, stand sie fast genau vor dem großen Drachen, der mit vor Wut zitternden Flügeln auf eine Gruppe Alben einredete. »… Ihr seid viele. Also los, schickt einen vor, verdammt noch mal.«
Einer der Alben, ein hagerer Kerl, dem eines seiner spitzen Ohren zur Hälfte abgeschnitten war, zeigte mit seinen dürren Fingern auf die Hexe. »Nehmen wir doch sie!«
Der Drache drehte sich halb um, runzelte die Stirn und schenkte Knuper dann ein spitzzahniges Lächeln. »Meine Liebe, was für eine Freude, dich zu sehen! Würdest du mir vielleicht einen kleinen Gefallen tun?«
Die Hexe war es nicht gewohnt, so warmherzig vom alten Drachen empfangen zu werden, und blickte zunächst einmal verdutzt über ihre Schulter, um zu sehen, ob er nicht vielleicht jemand anderes meinte. Doch außer ihr gab es niemanden in dem Tunnel.
»Komm doch näher!«, die Stimme des Drachen hatte einen seltsam gurrenden Ton.
Zögerlich trat Knuper vor. Alle im Saal starrten sie wie gebannt an. Nervös blickte sie an sich hinab, um sicherzugehen, dass sie nicht etwa an pikanter Stelle ein Loch im Rock hatte. Leider waren Besen Transportmittel, bei denen man derlei Pannen nicht ganz ausschließen konnte.
»Und jetzt geh doch bitte einen Schritt zurück«, kommandierte der Drache.
Knuper gehorchte, während ihr geschuppter Gastgeber den Kopf schief legte und sie angespannt beobachtete.
»Noch einmal einen Schritt vor«, murmelte der Drache. »Und zurück!«
Die Hexe bekam allmählich das Gefühl, dass man sie hier verarschen wollte.
»Dieses rabenfedrige Flittchen hat uns hereingelegt!«, fauchte der Drache und eine zornesrote Stichflamme schlug ihm dabei aus seinem Rachen.
Knuper brachte sich mit einem Satz in Sicherheit und schon im nächsten Moment stürmte der alte Drache an ihr vorbei durch den Tunnel. Ihm folgten fast alle Gäste, die in der großen Höhle versammelt gewesen waren.
Von ferne hörte die Hexe Flügelrauschen und heiseres Geschrei. »Ich werde sie mir zuerst vornehmen. Mich haben sie mit dieser Farce am meisten gedemütigt!«
Die Hexe sah sich verblüfft um. Vor ihr auf dem Boden des Tunnels war eine feine, weiße Linie, so als sei dort vor kurzem etwas sehr Hartes über den Felsboden geschrammt. Bei dem unfreiwilligen Krummbeinballett, das sie für den Drachen aufgeführt hatte, musste sie mehrmals diese Linie überschritten haben.
In der Höhle war noch ein aufgedonnerter, ältlicher Kerl mit Puderperücke und einem bunten Gehrock zurückgeblieben. Ein rothaariges Mädchen stand bei ihm.
»Könnt ihr mir vielleicht erklären, was das zu bedeuten hat?«
Der Perückenträger zog eine fein ziselierte Silberdose aus seinem Ärmel und streute sich ein wenig schwarzes Pulver auf den Handrücken. »Ich glaube nicht, dass Ihr wirklich wissen wollt, was man gerade mit Euch getan hat, meine Dame.« Schnaufend zog er das Pulver in die Nase und begann in einer der Taschen seines weiten Gehrocks nach einem Schnupftuch zu
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