Nebenan: Roman
streichelte Tills Wangen …
Längst war die CD verstummt. Sie lagen in stiller Umarmung. Ihr Atem ging wieder ruhig. Neriella strich sich das Haar aus dem Gesicht. In ihren halb geschlossenen Augen spiegelte sich die Weite der blau schimmernden Leinwand.
»Ich glaube, ich mag dein Meer«, flüsterte sie.
*
Birgel tastete sich durch den dunklen Gang hinter dem Aufzugsschacht im Abflussrohr. Eigentlich hatte der Rat allen Heinzelmännern verboten hierher zu kommen, wenn sie nicht die ausdrückliche Erlaubnis Lallers hatten. Der junge Heinzelmann wischte über seine schweißnasse Stirn. Er hasste es, Verbote zu ignorieren. Vorsichtig tastete er nach der Klinke zu Nöhrgels Arbeitszimmer. Sie gab nach. Lautlos schwang die Tür auf. Eigentlich hätte die Kammer verschlossen sein sollen! Wäre er nur nicht hierher gekommen! Birgel blickte zurück zu den matt glühenden Pfeiltasten neben der Aufzugtür. Nein! Jetzt war er schon so weit gekommen! Wenigstens einen Blick sollte er riskieren! Er schob die Tür einen Spaltbreit auf und versuchte an Leckereien wie Lakritzpudding, Taubeneieromeletts und Bucheckerpfannkuchen zu denken. Sich ein gutes Abendessen vorzustellen war seiner Meinung nach die beste Methode, gegen Angst anzukämpfen.
Die Kammer des verbannten Ältesten war in blaugraues Licht getaucht. Leise summten die Ventilatoren der Computer und irgendwo gab es ein blubberndes Geräusch, über dessen genaue Herkunft Birgel lieber nicht nachdenken wollte.
Vor dem Bildschirm des Wahrscheinlichkeitskalkulators zeichnete sich ein Schatten ab. Wallerich!
»Endlich habe ich dich gefunden!«
»Ich wusste, dass du kommen würdest«, brummte Wallerich missmutig.
Birgel beäugte misstrauisch den Rechner. Ob der Computer auch wusste, was es heute Abend in der großen Kantine am Tor zu essen geben würde?
»Nöhrgel hat diesen verdammten Computer so programmiert, dass er keine Informationen über ihn preisgibt«, fluchte Wallerich, während seine kurzen Finger auf die Tastatur hämmerten. »Es ist unmöglich, herauszufinden, wo der Älteste steckt!«
»Du warst auch nicht gerade leicht zu finden«, sagte Birgel leise, doch sein Freund ignorierte ihn. »Es gibt schlechte Nachrichten, Wallerich.«
Der Heinzelmann wandte sich vom Computer ab, schob seine rote Schiebermütze in den Nacken und grinste zynisch. »Das ist nichts Neues. Morgen passiert etwas, nicht wahr? Der Rechner hat ein paar Dinge angedeutet, ist sich aber nicht sicher, da zu viele instabile Wahrscheinlichkeitskurven den Fluss der Zeit durcheinander bringen. Die Bandbreite möglicher Ereignisse reicht von einem Kurzschluss, der das Tor nach Nebenan unter dem Hauptgebäude öffnet und so eine Beinahe-Invasion verursacht, bis zu der Möglichkeit, dass Laller von einem Langen eine Maulschelle verpasst bekommt, sodass sein vorlautes Mundwerk für Tage zugeschwollen sein wird und er sich durch einen Strohhalm ernähren muss. Du siehst, die Zukunft hält durchaus auch Gutes bereit.«
Birgel schüttelte unwillig den Kopf. Instabile Wahrscheinlichkeitskurven und das Gerede über mögliche Zukünfte, das war nichts für ihn. »Laller wird morgen etwas unternehmen. Er hat Rölps und seine Schlägertruppe herbestellt. Wir beide sollen uns auch ab Sonnenuntergang bereithalten, hat er mir gesagt.«
»Und was will er von uns?«
Der korpulente Heinzelmann machte eine hilflose Geste. »Das hat er nicht gesagt. Ich weiß aber, dass er Luigi Bügler zu sich beordert hat. Er sollte irgendwelche Kostüme machen, und dann hat er noch ein sehr langes Telefongespräch mit MacMuffin, dem Chef der Leprechauns von Dublin, geführt. Laller hat eine Schurkerei ausgebrütet, das schwör ich dir. Wenn ich nur an ihn denke, vergeht mir der Appetit, und das ist das Schlimmste von allen möglichen Omen.«
»Vielleicht hat Laller auch nur ein Paar maßgeschneiderte Stiefel bei MacMuffin bestellt«, scherzte Wallerich. »Dazu würde sogar passen, dass er sich vorher mit Luigi getroffen hat.«
»Und meine Appetitlosigkeit?«, wandte Birgel ein. »Nein, nein! Da nimmt etwas ganz Übles seinen Anfang. Du wirst schon …«
»Sie haben Post bekommen«, flüsterte eine rauchige Frauenstimme hinter Wallerich. Ein Briefsymbol leuchtete auf dem Computerbildschirm auf, dann erschien ein Bild, das Sharon Stone in einer sehr gewagten Briefträgerinnenuniform zeigte.
»Unser Ältester hat schon seltsame Vorlieben«, knurrte Wallerich und öffnete die E-Mail, während Birgel sich auf Zehenspitzen
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