Nebenweit (German Edition)
war wichtig, dass Carol jetzt durchhielt, und Dupont gegenüber durften wir keineswegs Schwäche zeigen. Im Gegenteil. Ich hatte ihn ganz bewusst in unser Haus eingeladen, um ihm zu demonstrieren, dass wir keine Angst vor ihm hatten, und wenn es dessen noch bedurft hätte, so hatten mich die letzten Stunden und seine Offenheit davon überzeugt, dass es sich lohnte, ihm zu vertrauen. In Grenzen, aber immerhin mehr, als ich das bisher für zweckmäßig gehalten hätte.
Das erklärte ich jetzt Carol, die ich mit der Einladung an Dupont ja schließlich überrumpelt hatte. Aber ich kannte meine Carol – ›meine Carol‹? –, sie stand mit beiden Beinen fest auf der Erde, und wenn es hart auf hart kam, war meist sie diejenige, die länger die Nerven behielt und die mich schon oft in die Realität zurückgeholt hatte.
Das bewies sie auch jetzt, als wir beide wieder hinausgingen, sie mit der Kaffeekanne, ich mit dem Tablett mit Kuchen und Geschirr beladen. »Ich denke, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Herr Dupont«, setzte sie an, während sie ihr Lieblingskaffeeservice aufbaute. »Als Sie vorgestern an der Tür geklingelt haben –«
Weiter ließ Dupont sie nicht kommen. »Aber ich bitte Sie, gnädige Frau«, fiel er ihr ins Wort. »Dafür habe ich doch volles Verständnis. Ich hätte natürlich vorher anrufen sollen. Ich kann mich sehr gut in Ihre Lage versetzen, da –«
Diesmal war sie diejenige, die ihm ins Wort fiel. »Das halte ich zwar für stark übertrieben, aber ich weiß, dass es gut gemeint ist. Und die ›gnädige Frau‹, die lassen wir jetzt wohl besser. Frau Lukas genügt völlig, und wenn wir in Savannah wären, wo ich herkomme, würde ich darauf bestehen, dass Sie Carol sagen. Also, Sie haben mich erschreckt und ich war unhöflich zu Ihnen. Und damit sind wir jetzt quitt und reden nicht mehr darüber. Okay?«
Dupont strahlte, erhob sich, verneigte sich und gab ihr, wieder ganz Gentleman der alten Schule, einen perfekten Handkuss.
»Womit das dann erledigt wäre«, schaltete ich mich in das Geplänkel ein. »Damit wir alle den gleichen Wissenstand haben, darf ich zusammenfassen, dass ich Herrn Dupont über meine Reise nach Japan und das anschließende Telefonat mit Tanabe berichtet habe und er mir bestätigt hat, dass Frederic Mortimer sich in seinem Gewahrsam befindet. Wenn ich richtig verstanden habe, hat er in diesem Zusammenhang ein Anliegen an mich. Und dass der hübsche Werkzeugschuppen an unserer Auffahrt jetzt nur mehr eine verkohlte Ruine ist, geht auch auf das Konto Dupont. Von mir erfährt die Forstverwaltung dazu nichts«, fügte ich hinzu und blinzelte Dupont dabei zu.
»Und unter den gegebenen Umständen ist offensichtlich, dass mein kleines Malheur kein Einzelfall gewesen sein kann. Herr Dupont hat das zwar noch nicht ausdrücklich bestätigt, wird das aber vermutlich tun. Damit sollten wir für die nächsten paar Stunden genügend Gesprächsstoff haben. Herr Dupont wird uns jetzt ganz sicherlich einiges erzählen.« Ich nickte ihm aufmunternd zu.
Dupont nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, verdrehte genießerisch in einer sehr gallisch wirkenden Geste die Augen und lehnte sich mit einem tiefen Atemzug zurück. »Also gut«, setzte er an.
Gaelia
30
1920
Im großen Saal herrschte Halbdunkel. Hinter dem Podium und an den Seitenwänden flackerten Fackeln, rußten, füllten den Saal mit beißendem Rauch, der nur widerwillig durch die beiden Öffnungen im Dach abzog. An die tausend Menschen hatten sich hier mitten im Dorf versammelt, beinahe ein Viertel der erwachsenen Bewohner von Luteta. In den sechs Nachbardörfern fanden jetzt ähnliche Versammlungen statt. Später, wenn alle zu Wort gekommen waren, die etwas zu sagen hatten, würden sich die Weisen Männer und Frauen der Sieben Dörfer mit den Bewahrern der Stäbe zusammensetzen und beraten, wie es weitergehen sollte.
So war es immer gewesen, wenn das Volk vor wichtigen Entscheidungen stand, wenn beraten wurde, was ausgesät werden sollte, wer zum Dienst mit der Waffe für die Jagd ausgebildet werden sollte, oder gar, an den Heiligen Tagen, wer als Nächster die Stäbe hüten sollte, auf denen der Fortgang der Jahre verzeichnet wurde. Auch heute noch waren die Stäbe geheiligt, in die jeden Tag eine Kerbe geschnitten wurde und an denen die Weisen die Gesänge aus jenen fernen Tagen orientierten, als die Geschichte des Volkes begonnen hatte. Einundneunzig solcher Stäbe bewahrte No
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