Nebenweit (German Edition)
Personen, sondern darüber hinaus als Informations- und Fernmeldezentrale benutzten. Die Nachricht über das Verschwinden von Bernhard Lukas in der Europawelt, genauer gesagt sein Nicht-Erscheinen dort, war hier per ›Rutsch‹ von der Gaeliawelt in die Europawelt gebracht und anschließend mit etwas moderneren Kommunikationsmitteln, also per E-Mail, von Paris nach Rosenheim gelangt.
Ich schloss die Augen, trat auf zwei der vier roten Markierungen am Boden, malte mir die zwei gekreuzten Stäbe im Empfangsraum ›auf der anderen Seite‹ aus, redete mir ein, ich könne den frischen Duft von Kastanienwäldern riechen – spürte ein leises Ziehen hinter den Augen, ein Prickeln in den Haarspitzen – und war gerutscht und stand jetzt auf zwei blauen Markierungen am Boden. Statt des Dufts von Kastanien umfing mich leichter Ozongeruch, und ich fragte mich wohl zum dutzendsten Mal, ob mich beim Eintreffen wirklich blaue Blitze umgeben hatten.
Ich war allein im Raum und nahm die dunklen Vorhänge und das karge Mobiliar nur flüchtig wahr, weil ich mich der Vorschrift gemäß in aller Eile auf den Flur begab. Bei einem ›Rutsch‹ auf ein körperliches Hindernis zu treffen, also im konkreten Fall auf einen gleichzeitig Rutschenden, war stets unsere größte Sorge, und deshalb sah eine strenge Regel vor, dass man sich nur Sekunden in einem Empfangsraum aufhalten durfte. Dass AWs diese Regel nicht kannten und sich daher nicht an sie hielten, war klar. Und so passierten eben dann Dinge wie mit den beiden Lukas. Zum ersten Mal seit Menschengedenken …
Als Regierungsmitglied stand mir und meinen Kollegen ein eigener Umkleideraum zur Verfügung, wo ich mich schnell von einem Anzugträger der Europa-Zeitlinie in einen gälischen Druiden verwandelte – also eine weite Leinenhose, ein ebensolches Hemd sowie schlichte Ledersandalen anlegte. Ein Blick in die Runde machte mir bewusst, wie sehr sich mein Zuhause doch von den Räumlichkeiten in Rosenheim in der Europawelt unterschied. Rohe, ungehobelte Bretter mit zahlreichen Ästen und Schrunden, aus denen Harz getreten war, bildeten die Wände, der Boden bestand aus schlichten Brettern, die – schließlich war ich Regierungsmitglied – ein handgewebter Wollteppich bedeckte. Meine Kleidung hatte ich von einem Haken an der Wand genommen, an den ich jetzt meinen Anzug hängte, daneben hing ein halb verblasster Spiegel, was einen schon fast exzessiven Luxus darstellte. Das schmale Fenster war mit durchscheinendem Leinenstoff bespannt und ließ genügend Sonnenlicht herein, dass ich es mir sparen konnte, die Öllampe zu entzünden, die auf dem schlicht gezimmerten Tisch stand.
Ich musterte meine Erscheinung kurz in dem bescheidenen Spiegel, strich mir mit einer automatischen Bewegung das Haar aus der Stirn, trat in den Flur hinaus und nahm Kurs auf den Ratssaal am Ende des Korridors. Die Uhr über der schlichten Doppeltür zeigte fünf Minuten nach zehn. Sie war ein Mitbringsel aus der Anderen Welt und gleichsam ein Symbol für den massiven Wandel der Lebensgewohnheiten, den mein Volk durchgemacht hatte und der sich ständig beschleunigte. Abgesehen von der Zählung der Monate und Jahre, die als heiliges Amt dem Bewahrer der Stäbe übertragen war, hatte es bis vor vielleicht fünfzig Jahren nur eine recht schlichte Zeitmessung gegeben – der Tag war vom Lauf der Sonne und einfachen Wasseruhren bestimmt, mit denen man die Stunden maß. Erst die zunehmende Verflechtung mit der Anderen Welt hatte es wünschenswert erscheinen lassen, den Zeitablauf exakter zu regeln und mit dem unserer ›Nachbarn‹ zu koordinieren. Die Uhr an der Stirnseite des Ganges stammte aus einer Werkstätte in Paris und war vor fünfzig Jahren in einer feierlichen Zeremonie dem Bewahrer der Stäbe übergeben worden. Ich nickte der Wache zu, die mich mit einer militärischen Ehrenbezeigung begrüßte und mir die Tür öffnete, und betrat den Ratssaal, in dem bereits das gesamte Kabinett um eine runde Tafel versammelt war. No Telux, der Bewahrer der Stäbe, saß auf einem erhöhten Sessel, ihm gegenüber Alu Bolax als Capo Druidum und somit Primus inter Pares im Kabinett, ein hagerer Mann mit asketischer Gestalt und kurz geschnittenem, weißem Haar, das seine glatten, durchgeistigt wirkenden Gesichtszüge Lügen strafte. Bolax war vor zwanzig Jahren mein Lehrmeister gewesen und hatte mich in die Lebensweise der Anderwelt eingeführt, seitdem verband mich mit ihm eine enge Freundschaft.
Er zwinkerte mir zu,
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