Nebenweit (German Edition)
Ausschlag zum Handeln gegeben, was sicherlich nicht ohne Folgen bleiben wird. Vielleicht hätte ich unsere Agenten anweisen sollen, Antolax’ Leute zu töten, aber das konnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Schließlich sind es ja auch Angehörige unseres Volkes, und da zählt jeder einzelne, auch wenn er fehlgeleitet ist.« Ich musste tief durchatmen und schämte mich, dass ich immerhin in Erwägung gezogen hatte, einen kaltblütigen Mord anzuordnen, auch wenn die Entführer Mortimers nach den Gesetzen unseres Volkes den Tod verdient hatten.
»Dann erfuhr ich, dass Lukas’ Pendant nicht etwa aus der Europa- in die Amerikawelt versetzt wurde, sondern verschwunden ist. Aus dem Grund sah ich keine andere Wahl, als diese Sitzung anzuregen. Für mich steht fest, dass die Auseinandersetzung mit den Traditionalisten jetzt in ein Stadium getreten ist, in dem es nicht mehr darum geht, weltanschauliche Meinungsverschiedenheiten mehr oder weniger philosophisch zu diskutieren, sondern in dem die Gegenseite dabei ist, sich in der Germaniawelt eine unangreifbare Basis zu schaffen und Andersdenkenden gegenüber Gewalt anzuwenden. Und zwar aus reinem Machtstreben, nicht etwa aus religiösen Gründen. In der Germaniawelt herrschen Diktaturen, und in einer solchen Umgebung hat Antolax sich auf seiner Ordensburg eine Machtposition geschaffen, die es ihm erlauben könnte, dort unter Einsatz der unserem Volk eigenen besonderen Fähigkeiten die Macht an sich zu reißen. Und die Götter mögen uns gnädig sein, wenn er zusätzlich dazu imstande sein sollte, Anderweltler mit auf den ›Rutsch‹ zu nehmen.«
Ich hielt inne und spürte, dass ich den richtigen Ton getroffen hatte. Aus der Runde um mich war kein Ton zu hören. Meine vier Ratskollegen und der Bewahrer der Stäbe sahen mich mit geweiteten Augen an. Totenstille herrschte, sodass das Summen einer Fliege plötzlich wie Donner zu hallen schien.
No Telux fand als Erster die Stimme wieder. Er legte die Hand auf den heiligen Stab, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Mögen die Götter uns gnädig sein, wenn deine Beurteilung den Tatsachen entsprechen sollte«, sagte er bedächtig. »In dem Fall stehen wir vor der größten Gefahr seit der Großen Seuche, die vor neunzig Jahren aus der Anderwelt bei uns eingeschleppt wurde und der ein Viertel unseres Volkes zum Opfer fiel.«
Alu Bolax, mein alter Lehrmeister, hatte sein Asketengesicht auf die gefalteten Hände gestützt und musterte mich jetzt fragend. »Wie ich dich kenne, Obertix, bist du nicht nur gekommen, um uns vor der Gefahr zu warnen, sondern du hast auch schon Pläne gemacht, wie ihr zu begegnen ist. Fahre also bitte fort.« Er nickte mir aufmunternd zu.
Ich senkte resigniert den Kopf. »Ich wollte, es wäre so«, gestand ich. »Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, aber außer einer Militäraktion gegen Antolax fällt mir nichts ein. Und die müsste auf der Germaniawelt stattfinden, inmitten der hochgerüsteten Militärmaschine des deutschen Nazireichs.«
Bernd Lukas
36
Nachdem ich mich von Frau Bergmoser verabschiedet hatte – Dupont befand sich irgendwo im Haus, sagte sie und versprach, ihm meine Entscheidung mitzuteilen –, ging ich zu meinem Wagen. Zu warten, bis Mortimer aufwachte, war sinnlos. Außerdem hatte ich ja auch noch so etwas wie ein Privatleben. Es war bereits dunkel geworden, und der Winter kündigte sich unübersehbar mit ersten Schneeflocken an. Ich stieg ein und betätigte die Zündung. Mein Blick fiel dabei auf die Datumsanzeige am Armaturenbrett. Mir wurde bewusst, dass ich mich jetzt seit einem ganzen Monat in dieser Welt befand.
Meine Gedanken wanderten zu Carol – meiner Carol in der Amerikawelt. Ich versuchte mir auszumalen, wie sie wohl mit meinem Verschwinden fertig wurde. Bis vor ein paar Stunden hatte ich ja angenommen, ›wenigstens‹ mein Pendant sei bei ihr. Gelegentlich war mir auch durch den Kopf gegangen, dass ›der Andere‹ sich vielleicht im Gegensatz zu mir nicht offenbart hatte. Ob ich es wohl getan hätte, wenn da nicht die Sache mit dem Handy gewesen wäre?
Rosenheim hatte ich inzwischen hinter mir gelassen und rollte bereits auf der um diese Tageszeit wenig befahrenen Autobahn dahin, wobei mir auffiel, wie wenig Lkw unterwegs waren. Der Schnee fiel inzwischen dichter, und der Scheibenwischer schaltete sich ein, zuerst im Abstand von ein paar Sekunden, wurde dann aber immer schneller, als die Schneeflocken dichter fielen.
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