Nebenweit (German Edition)
amerikanische Bürgerkrieg in dieser Welt zu Gunsten der Union ausgegangen war – hatten es bisher geschafft, ihre Unabhängigkeit von den beiden Machtblöcken zu bewahren.
Der Verfasser formulierte das nicht so, aber wenn man einigermaßen zwischen den Zeilen zu lesen verstand, war klar erkennbar, dass die Menschen auch heute, siebzig Jahre nach Errichtung dieser Hegemonie zwar in einigermaßen gesicherten materiellen Verhältnissen, vielleicht sogar in gewissem Wohlstand lebten, es aber um ihre persönlichen Freiheiten ziemlich traurig bestellt war.
An manchen Stellen des Buches war auch von Einsätzen einer Elitetruppe, die sich SS nannte, die Rede und ich konnte Hinweisen auf die Rangstufen dieser Truppe und deren Uniformen mit ziemlicher Klarheit entnehmen, dass Herr Standartenführer Schmid und sein Adlatus Mattke dieser Einheit angehörten.
Es klopfte an der Tür und ich sah willkürlich auf die Uhr – eine Geste, wie mir bewusst wurde, die ich mir fast abgewöhnt hatte. Aber zu meinem neuen Status als Gefangener einer gehobenen Kategorie hatte auch die Rückgabe meiner Armbanduhr gehört, die jetzt halb fünf Uhr nachmittags anzeigte. Ich hatte drei Stunden ununterbrochen gelesen, erkannte ich, drei Stunden, seit Schmid sich verabschiedet und mich wieder von Mattke in mein Kellerverlies hatte eskortieren lassen. Es klopfte ein zweites Mal, auch dies ein Zeichen meines geänderten Status. »Herein!«, rief ich, beinahe ein wenig stolz. Ich hatte also wieder darüber zu bestimmen, wer mich hier aufsuchte, dachte ich. Eigentlich ein Beweis dafür, wie schnell man sich an den Verlust seiner Menschenwürde gewöhnen kann.
Die Tür öffnete sich und Frau Kormaier, immer noch in Hausmädchentracht samt weißem Häubchen, trat mit einem Tablett ein. Draußen im Flur konnte ich undeutlich die Gestalt Mattkes erkennen. Inzwischen wusste ich aus einem Artikel über die unterschiedlichen militärischen und paramilitärischen Verbände des Deutschen Reichs, dass er der SS angehörte, deren Symbol die sogenannte Siegrune war, und glaubte mich zu erinnern, dass er am Kragenspiegel einen Stern trug, also Scharführer war. »Kommen Sie ruhig auch rein, Scharführer Mattke«, rief ich, bestrebt, mir meine beiden Bewacher so weit wie möglich freundlich zu stimmen.
Er trat ein paar Schritte vor, blieb aber unter der Tür stehen. »Vielen Dank, Herr Lukas, aber ich warte lieber draußen«, erwiderte er, sichtlich beeindruckt, dass ich seinen Rang erkannt hatte. Auf Frau Kormaiers Tablett standen ein Pappbecher mit Bier, ein Pappteller mit Kartoffelsalat und Würstchen sowie ein weiterer Pappteller mit etwas, das wie Pudding aussah. Dazu Plastikbesteck, wie man es mir auch in der Vergangenheit mit den Eintopfgerichten gebracht hatte. Ich bekam also zwar bessere Kost, jedoch Besteck oder Geschirr, das man auch zu einer Waffe oder zu Werkzeug umfunktionieren konnte, blieb mir vorenthalten. »Wenn Sie später Kaffee oder sonst etwas zu trinken wollen, brauchen sie es nur zu sagen. Ich komme in einer Stunde wieder vorbei und hole dann das Geschirr ab«, verkündete mir Frau Kormaier. »Und jetzt wünsche ich guten Appetit.«
Ich nickte ihr lächelnd zu. »Vielen Dank, sehr liebenswürdig«, strahlte ich, als säße ich in einem Nobelrestaurant und hätte gerade den ersten Gang eines Gourmetdinners erhalten. »Kaffee wäre nett, und vielleicht etwas Wasser für die Nacht. Die Luft hier unten ist doch sehr trocken.«
»Aber gerne.« Frau Kormaier nickte mir zu und ging zur Tür. Mattke trat beiseite, die Tür schloss sich, ich hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, dann war ich wieder allein. Ich legte das Buch beiseite und schob mir den Teller zurecht, stand aber noch einmal auf und schaltete den Fernseher ein und legte mir die Fernbedienung zurecht, ein klobiges, antiquiert wirkendes Ding. Die Bildröhre wurde hell, Marschmusik ertönte, dann baute sich langsam ein Bild auf. Ein großer Platz, gesäumt von einer bunt gekleideten Menschenmenge, war zu sehen, im Hintergrund eine Säulenhalle mit zwei Löwen davor: die Feldherrnhalle in München, erkannte ich, und davor in Reih und Glied angetreten Hunderte junger Leute in der Uniform, die die Jugendlichen im Dorf am Tag vor meiner Gefangennahme getragen hatten: braune Hemden, schwarze Hosen, ebensolche Halstücher und Armbinden mit dem schwarzen Balkenkreuz darauf, von dem ich jetzt wusste, dass es sich Hakenkreuz nannte und das Symbol der in fast ganz Europa
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