Nebenweit (German Edition)
es schien, frei bleiben würde. Nach einem Gespräch mit einem Wildfremden wäre mir nun wirklich nicht zumute gewesen.
Die Kabine war nur etwa zur Hälfte besetzt, hauptsächlich Geschäftsreisende, meist Deutsche, dafür hatte ich immer noch einen Blick. Vor mir saß ein amerikanisches Paar, aus den Konföderierten Staaten, wie ihrer Sprache unschwer zu entnehmen war. Gut gekleidet, sichtlich wohlhabend, sonst würden sie sich die Geschäftsklasse nicht leisten, die immerhin beinahe das Dreifache der Touristenklasse kostete. Meine Landsleute reisten nicht viel, der Kurs des Dixiedollars stand ziemlich schlecht, und so war das Reisen in Europa für sie sehr teuer. Kalifornier hatten es da etwas besser, das wusste ich von meinem Bruder, der in San José für eine Elektronikfirma tätig war und häufig geschäftlich in dem von Japan beherrschten pazifischen Raum und auch in Europa unterwegs war.
Bernd hatte erzählt, dass in seiner Zeitlinie – an das Wort musste ich mich noch gewöhnen – die USA in der Welt den Ton angaben und sich meist durch ziemlich anmaßendes Auftreten unbeliebt machten, aber das konnte ich mir kaum vorstellen. In meiner Erinnerung waren es stets die Deutschen gewesen, die mit ihrer rechthaberischen Art aufgefallen waren. Schließlich hatte ich lange genug für eine deutsche Firma gearbeitet und mich immer gewundert, wie wenig Bernhard doch in der Beziehung der Klischeevorstellung von seinen Landsleuten entsprochen hatte.
Ich spürte, wie mich wieder Wehmut überkam. Bernhard, werde ich dich je wiedersehen? Und wie mag es dir in jener dir so fremden Welt ergehen? Ich hatte gespürt, wie Bernd zusammengezuckt war, als ich ihn beim Abschied spontan in die Arme genommen hatte, hatte die drei Tage, die ich mit ihm unter einem Dach gelebt hatte, seine Orientierungslosigkeit und seine Angst gespürt, das Gefühl, ganz allein in einer Welt voller Fremder gestrandet zu sein, und es doch ebenso wenig wie er geschafft, die Mauer zu durchbrechen, die zwischen uns beiden stand und uns davon abhielt, unseren Gefühlen freien Lauf zu lassen und uns dem anderen zu öffnen.
Die Flugbegleiterin, eine junge Frau vom Typ Fotomodell in perfekt sitzender, dunkelblauer Lufthansauniform mit einem schicken bunten Halstuch und einem keck auf ihrer blonden Kurzhaarfrisur sitzenden Schiffchen, beugte sich graziös zu mir herunter und bot mir ein Glas Champagner an, das ich gerne annahm. Gleich darauf kam ihre Kollegin, nicht minder graziös, mit schwarzer Lockenmähne, und bot Zeitungen und Zeitschriften an. Ich traf meine Wahl und legte die Blätter auf den Sitz neben mir. Der Champagner war eiskalt und köstlich, genau das, was ich jetzt brauchte. Ich lehnte mich zurück und dachte nach. Bernd hatte mir zu erklären versucht, was mit ihm geschehen war, hatte von Parallelwelten, anderen Dimensionen und Quantenphysik gesprochen, aber ich hatte kaum etwas davon verstanden.
Hängen geblieben war eigentlich nur, dass nach dieser Theorie jede Entscheidung, die jemand trifft, im Großen wie im Kleinen, dazu führt, dass der Lauf der Geschichte sich verzweigt und damit sozusagen eine neue Welt schafft. Also eine, in der ich das Champagnerglas annehme und daraus trinke und eine andere, in der ich ablehne. Da Entscheidungen dieser Art für den weiteren Lauf der Welt ohne Belang sind, fließen – zum Glück, wie ich fand – die sich so verzweigenden Welten, Zeitlinien hatte Bernd sie genannt, meist nach kurzer Zeit wieder zusammen.
Dann wiederum gibt es Entscheidungen, die den Lauf der Welt wirklich und nachhaltig verändern, also beispielsweise das Ergebnis eines Krieges. Bernd hatte mir erklärt, dass in seiner Welt die Unionstruppen 1865 den Sieg über die Konföderierten errungen hatten und die USA ein einheitlicher Staat geblieben waren. Der war in der Jetztzeit der mächtigste Staat auf der ganzen Welt geworden und machte überall seinen Einfluss geltend, während Europa durch zwei schreckliche Kriege im vergangenen Jahrhundert seine Vormachtstellung auf der Welt eingebüßt hatte und heute zwar wieder wirtschaftliche Macht ausübte, politisch aber eher bedeutungslos war.
Mir das vorzustellen, fiel mir nicht leicht, doch Bernd hatte sehr überzeugend gesprochen und ich hatte in der kurzen Zeit ebenso hohen Respekt für seine Intelligenz und sein Wissen gewonnen, wie ich das bei Bernhard von Anfang unserer Bekanntschaft an empfunden hatte. Vermutlich hatte er also recht, auch wenn ich mir ein mächtiges, geeintes
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