Nebenweit (German Edition)
Auch vor den Kindern wollten wir zunächst daran festhalten, was mir wahrscheinlich nicht gelungen wäre, wenn ich in Deutschland geblieben wäre. Ich hatte mich noch nicht einmal von Ihnen verabschiedet, aber das würde ich telefonisch von Savannah aus nachholen.
»Jetzt erzähl schon, was gibt es Neues bei euch, habt ihr euch gut in eure Berghütte eingelebt?«, wollte Cindy wissen, als wir alle drei auf der Sitzbank ihres Ford saßen und auf der Augusta Road südwärts rollten. »Ich dachte immer, du wärst ein Stadttyp geworden, wie kommst du denn in der Wildnis zurecht?«
Ich hatte der Familie Bilder von unserem neuen Haus geschickt und ihr auch erklärt, dass wir uns keineswegs in die Einöde zurückgezogen hatten, aber meiner ans Stadtleben gewöhnten Schwester fiel offenbar die Vorstellung schwer, dass man sich so weit vom nächsten Supermarkt entfernt wohlfühlen konnte.
Wenn ich es nicht schon vorher gewusst hätte, wäre mir jetzt endgültig klar geworden, dass ich mit dieser Reise in meine Vergangenheit das einzig Richtige getan hatte. In Deutschland hätte ich den ganzen Tag gegrübelt, mich Bernd wahrscheinlich noch mehr entfremdet, als ich dies den Umständen nach ohnehin war – und wäre am Ende wahrscheinlich verrückt geworden. Entfremdet war unter den gegebenen Umständen ganz sicherlich nicht der richtige Ausdruck, aber das tat jetzt nichts zur Sache. Hier, in dieser kleinen Welt – Savannah hat zwar, wenn man das Umland dazurechnet, beinahe eine Viertelmillion Einwohner, ist aber im Wesen eine richtige Kleinstadt, weitab vom Weltgeschehen, sieht man einmal von den vielen Touristen ab – würde ich jedenfalls so tun können, als ob alles seine normale Ordnung hätte. Und vielleicht würde die Zeit auch alle Wunden heilen.
»Wir fühlen uns so wohl wie nie zuvor«, beantwortete ich die Frage wahrheitsgemäß – bezogen auf die Zeit vor dem ›Ereignis‹. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für herrliche Luft wir in den Bergen haben und wie schön es ist, wenn man am frühen Morgen die Vögel singen hört. Die nächste Ortschaft ist keine Viertelstunde entfernt und nach München brauchen wir auch nur etwa eine Stunde.« Cindy hatte uns einmal in München besucht, als wir noch in Schwabing gewohnt hatten, und sich sofort in die Stadt verliebt.
Wir waren inzwischen von der Interstate abgebogen und rollten jetzt durch bewohnte Gebiete, vorbei an einigen Herrenhäusern aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, die auch in ihrem jetzt halb verfallenen Zustand noch den unermesslichen Reichtum der weißen Pflanzerfamilien jener lang vergangenen Zeit widerspiegelten. Wir rollten durch breite Alleen, gesäumt von jahrhundertealten Eichen, an denen wie Nebelschwaden in der einbrechenden Dämmerung Spanisches Moos hing, sahen hinter langen, gewundenen Auffahrten zerfallende Paläste, deren Säulenportale von vergangener Pracht zeugten, und im gebührenden Abstand dazu niedrige, an Kasernen erinnernde Behausungen für die Sklaven, die damals auf den Baumwollfeldern den Reichtum ihrer Herren geschaffen und vermehrt hatten.
Wir näherten uns Bartow County, dem County, in dem Cindy und ihre Familie wohnten und wo auch ich aufgewachsen war. Ein Gefühl von Nostalgie kam in mir bei den Gedanken an eine ärmliche und doch glückliche Kindheit auf. Dad hatte in der Papierfabrik der Union Camp Corporation gearbeitet und in vierzig Jahren den Aufstieg vom ungelernten Arbeiter zum Produktionsleiter geschafft. Mom hatte uns Kinder versorgt und es auch in den schweren Jahren der Wirtschaftskrise geschafft, immer eine warme Mahlzeit auf den Tisch zu bringen und mir und Cindy durch sparsames Haushalten eine gute Schulbildung zu ermöglichen.
Als ich nach meiner gescheiterten ersten Ehe nach Richmond gezogen war und dort bei der Niederlassung der deutschen Firma Siemens eine Bürotätigkeit angenommen hatte, war meine Familie zunächst enttäuscht gewesen, dass ich dort einen Ausländer geheiratet hatte. Sie hatten befürchtet, wir würden uns von der Familie entfremden. Aber als sie Bernhard kennengelernt hatten, hatte der ihre Herzen im Sturm erobert. Ganz wie das meine, dachte ich wehmütig …
… und war froh, dass Cindy in exakt diesem Augenblick darauf hinwies, dass wir gerade den Mary Calder Golf Club passierten und in wenigen Minuten ›zu Hause‹ sein würden. Carterville, das kleine Städtchen am Etowah River, in dem unser Elternhaus stand, das heute Cindy und ihre Familie bewohnten, steht auf
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