Nebenweit (German Edition)
jede Woche Lesefutter, sodass sie mich mit einem freundlichen »Grüß Gott, Herr Lukas, schon so früh auf den Beinen?« begrüßte. »Heute haben Sie sich aber viel vorgenommen«, meinte sie eine halbe Stunde später, als ich mit einem Arm voll Bücher, darunter auch einem historischen Atlas, wieder an ihre Theke trat.
»Eigentlich nicht, aber ich recherchiere für ein Buch, an dem ich gerade schreibe. Sie wissen ja, wie es ist: Wenn man dann zu Hause ist, fällt einem ein, dass man etwas vergessen hat. Und dann würde mich das eine Stunde kosten«, erwiderte ich und verabschiedete mich.
***
Beladen mit Büchern, Zeitungen und zwei großen Tüten mit Proviant für mindestens drei Tage kehrte ich nach Hause zurück. Dort erwartete mich Carols Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Charlie hob nur kurz den Kopf, seufzte tief und setzte dann den unterbrochenen Schlaf wieder fort. Hunde schaffen mühelos zwanzig Stunden Schlaf am Tag.
Als Frühaufsteherin, wie es – vermutlich auch jene – Carol war, war es besser, wenn man sie am Morgen anrief. Außerdem hätte ich nicht viel zu berichten gehabt. So beschloss ich, zunächst eine Tasse Kaffee zu trinken und mich dann nach einem kurzen Pflichtgang mit Charlie ganz der Lektüre hinzugeben. Mir war es einfach ein Bedürfnis, wenigstens einigermaßen zu wissen, wie ich meine weitere Umgebung – und letztlich diese ganze für mich neue Welt – einordnen sollte.
Unser Weg führte uns diesmal, ohne dass ich mir dessen zunächst richtig bewusst wurde, zu der Hütte, bei der mein Horrortrip begonnen hatte. Charlie trottete nicht sonderlich begeistert neben mir her und ließ mich erkennen, dass er eigentlich lieber seinen Schönheitsschlaf in der warmen Herbstsonne fortgesetzt hätte. Vielleicht hatte er einen anderen Zeitrhythmus als sein Namensvetter ›drüben‹ …
Die Hütte sah aus wie eh und je. Das neue Schloss machte mir klar, dass ich dort nicht ohne Weiteres herumschnüffeln konnte. Damit stand fest, dass ich etwas unternehmen musste. Also rief ich das Forstamt an und bat, mir den Schlüssel zur Verfügung zu stellen, ich hätte wohl bei meinem Einbruch dort einen Manschettenknopf verloren und wolle den suchen. Herr Kirchpointner, der Forstamtsleiter, versprach, im Laufe des Nachmittags einen Mitarbeiter mit den Schlüsseln vorbeizuschicken, und erkundigte sich dann nach meiner Frau, deren Abreise er zufällig am Bahnhof beobachtet hatte. Wir waren kurz nach unserer Ankunft im Ort mit allen Ehren in die Dorfgemeinschaft aufgenommen worden Trotz aller Beteuerungen meinerseits, dass ich keinen akademischen Titel trage, war ich für alle der ›Herr Doktor‹ und Carol wurde in den Dorfläden zu ihrer großen Erheiterung als ›Frau Doktor‹ tituliert.
Auch in dem Punkt herrschte absolute Parallelität, wurde mir bewusst. In diesem Augenblick und bei dieser banalen Erkenntnis traf es mich wie ein Blitzschlag:
Seit was auch immer mich aus meiner vertrauten Welt herausgerissen und in diese versetzt hatte, waren beinahe drei Tage vergangen. All die Zeit hatte mein ganzes Denken lediglich mir gegolten, meinem Schicksal, der Frage, welche Laune der Natur sich an mir vergriffen hatte, der Frage, wie diese Welt ›tickte‹, und in den ersten Stunden darüber hinaus dem Problem, ob und wie ich mich in dieser Welt Carol gegenüber offenbaren sollte.
Dass – quantenphysikalisch gesehen – bloß Millimeter, realistisch aber Lichtjahre weit entfernt dies alles vielleicht gleichsam im Spiegel ablief, hatte in meinen Überlegungen bis zu dieser Sekunde nicht die geringste Rolle gespielt. Wusste ich denn, ob Bernhard, mein Pendant, physisch unversehrt drüben vor den gleichen Problemen wie ich stand, sich der Frau anvertrauen oder auch nicht anvertrauen wollte, die die meine war? Und wenn es so war, wusste ich, wie Carol auf ihn reagieren würde – mit einer Mischung aus Lähmung, Zweifel und gut verborgenem Entsetzen … und Angst, panischer Angst, dass nichts mehr so sein würde, wie es einmal war?
Soweit ein Mensch sich überhaupt selbst kennen und beurteilen kann, hatte ich mich stets für einen ziemlich emotionslosen, kühl kalkulierenden Fatalisten gehalten, der nicht so leicht etwas an sich herankommen lässt. Dennoch wurde mir in diesem Augenblick bewusst, dass wohl noch nie ein Mensch so allein gewesen war, wie ich dies war. Allein in einer Welt, in der nur die Naturgesetze dieselben waren – immer vorausgesetzt, dass wenigstens das stimmte –, in der
Weitere Kostenlose Bücher