Nebenweit (German Edition)
Interesse fand. Nachdem ich an der Kasse meinen Obolus entrichtet hatte, ließ ich mich von der Menge schieben und verzichtete auf das Audiogerät, das am Eingang gegen eine Gebühr von fünf Eurotalern angeboten wurde. Ich hatte nicht vor, mir die Ausstellung gründlich zu erarbeiten, sondern wollte mir lediglich einen allgemeinen Eindruck verschaffen und meine fragmentarischen Kenntnisse der Geschichte dieser Zeitlinie ein wenig aufpolieren.
Der erste Saal stand unter dem Motto ›Vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zum Deutschen Bund‹ und zeigte auf einer Schautafel die besonders in der Nordhälfte wie ein Flickenteppich wirkende Karte mit den 39 Mitgliedsstaaten und Fürstentümern des damaligen Deutschen Reiches. Eine Texttafel daneben schilderte einzelne Höhepunkte jener Epoche, die aber, soweit ich das erkennen konnte, nicht von meinen eigenen Geschichtskenntnissen abwichen. Nachdem ich kurz vor der hinter Glas zur Schau gestellten Bundesakte verweilt und die liebevolle Schnörkelschrift der Originalurkunde jener ersten deutschen Verfassung bewundert hatte, ließ ich mich in den nächsten Saal treiben, der unter dem Motto ›Das Doppelimperium Deutschland/Österreich‹ stand. Ein Monumentalbild, das die beiden Souveräne Österreichs und Preußens und den Architekten jenes neuen Bündnisses, Reichskanzler Bismarck, zeigte, dominierte den Eingangsbereich. Dann folgten Schautafeln mit Bildern der Entscheidungsschlacht von Königgrätz, der Unterzeichnung des Waffenstillstands und der Neugründung des Deutschen Bundes unter Führung Preußens und – hier konnte ich schwarz auf weiß lesen, wie sich die Geschicke der beiden Zeitlinien auseinanderentwickelt hatten – dem Versöhnungsfrieden mit dem besiegten Österreich, das als gleichberechtigter Partner im Bund verblieb.
Ein paar Zeitungsartikel in schwer entzifferbaren, gotischen Lettern setzen sich mit der Verblüffung der damaligen politischen Klasse über Bismarcks unerwartete Entscheidung auseinander, spekulierten über die Auseinandersetzungen, die er darüber ohne Zweifel mit seinem Monarchen, dem schwachen König von Preußen, hatte führen müssen oder lobten seinen staatsmännischen Weitblick, der den langfristigen Frieden und damit auch den Weg zur deutschen Hegemonie in Europa dem kurzfristigen Triumph vorgezogen hatte. Auch ein paar französische und britische Zeitungsartikel waren in vergrößertem Maßstab auf Tafeln aufgezogen und zeigten, mit welchem Misstrauen die anderen europäischen Großmächte diesem Machtzuwachs des neu belebten Bundes beobachtet hatten.
Am interessantesten fand ich einen in Faksimile ausgestellten Artikel des amerikanischen Journalisten Mark Twain, der die Gründe für Bismarcks Meinungsumschwung zu erforschen versuchte und diese vorzugsweise im Ausgang des amerikanischen Bürgerkriegs suchte. Seiner Ansicht nach hatte Bismarck erkannt, dass die Spaltung und damit letztendlich der Untergang der Vereinigten Staaten von Amerika unweigerlich zu einem Verlust an weltpolitischer Bedeutung und einer Verabschiedung aus der Weltpolitik für die Dauer wenigstens einer Generation bedeuten würde. Bismarcks Folgerung daraus sei gewesen, dass es um jeden Preis gelte, im Zentrum Europas ein Machtzentrum zu bilden, wie es nur der verfassungsmäßige Zusammenschluss der beiden mitteleuropäischen Großmächte Preußen und Österreich darstellen konnte. Gleichzeitig habe Bismarck erkannt, dass nur die Form einer Föderation, die auch anderen europäischen Staaten offen stand, massive Interventionen seitens der Nachbarstaaten vermeiden könne.
Die nächste Tafel zeigte die mit großer Prunkentfaltung erfolgte Krönung des Preußischen Königs zum Deutschen Kaiser, wodurch er auch protokollarisch dem Kaiser Österreichs gleichgestellt wurde, mit dem er gemäß der neuen Verfassung gemeinsam den Bund regierte. In Vitrinen waren Uniformen und Hofroben aus jener Zeit ausgestellt, in einem abgeteilten Nebenraum konnte man hinter einer roten Kordel die Originalmöbel des kaiserlichen Büros aus der Residenz in Berlin bewundern.
Es folgte ein Tableau einer Schlacht, Sedan, wie eine Tafel zeigte. Winzige Zinnfiguren in farbenfrohen Uniformen, Pferde, Kanonen, mit Wattebäuschen täuschend nachgemachter Pulverdampf erinnerten an die einzige Schlacht in dem nur zehn Tage dauernden Deutsch-Französischen Krieg von 1870, in dem die Truppen des Deutschen Bundes die Frankreichs entscheidend geschlagen hatten. Auf einer Tafel
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