Nebenweit (German Edition)
verrückt.« Dr. Weber sah mich an, presste die Lippen zusammen und nickte. »Ja, wirklich schlimm, mir hat der alte Mann ehrlich leidgetan.«
»Aber wie erklären Sie sich diesen Pass?«, wollte ich wissen.
Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich sagte ja schon, er sah richtig amtlich aus, mit Wasserzeichen und Prägestempel und ein paar Ein- und Ausreisestempeln, München, Mexico City, London, Toronto und noch ein paar andere Städte. Geradezu unheimlich echt, wir rätseln immer noch. Der Chef wollte ihn zur Untersuchung geben, an die deutsche Passbehörde, glaube ich, aber jetzt ist Herr Mortimer ja verschwunden.« Wieder zuckte sie hilflos die Achseln.
Richtig sympathisch war die Frau. Sie mochte um die fünfunddreißig sein, brünett, hübsch, angenehme Stimme. Ihr weißer Arztmantel, über dessen linker Brustasche ihr Name eingestickt war, hatte sich hochgeschoben, sodass man ihre wohlgeformten Beine sehen konnte. Auch sonst war Dr. Weber äußerst wohlproportioniert. Sie musste meine Blicke bemerkt haben, denn sie errötete leicht. Ein paar Augenblicke hatte Stille zwischen uns geherrscht.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, erkundigte sie sich dann und machte Anstalten, das Gespräch zu beenden.
»Ja, sein Verschwinden würde mich noch interessieren. Normalerweise hat man in Krankenhäusern doch ein Auge auf die Patienten und Ihre Rezeption ist doch Tag und Nacht besetzt …«
»Ja, das ist sehr eigenartig. Als wir vorgestern in der Frühe in sein Zimmer kamen – wir hatten ihn in ein Einzelzimmer eingewiesen –, war es leer. Ich meine, völlig leer, als wäre es nie benutzt worden. Das Bett war ordentlich gemacht, das Waschbecken sauber, die Handtücher gefaltet und Spind und Nachttisch leer. Wir können uns das nicht erklären. Jetzt haben wir natürlich Sorge, dass Herr Mortimer irgendwo hilflos und desorientiert umherirrt und ihm etwas zustoßen könnte.« Ihre großen, blauen Augen sahen mich beinahe Hilfe suchend an. Sie konnte ja nicht ahnen, wie nahe mir Mortimers Schicksal ging und wie groß mein Mitgefühl für ihn war.
»Die Polizei sucht nach ihm, und das CSA-Konsulat stellt auch Ermittlungen an. Das Verrückte ist, dass es in St. Louis tatsächlich einen Frederic Mortimer gibt, auf den die Beschreibung unseres Patienten passt. Aber, stellen Sie sich vor, er lebt dort ganz vergnügt in einem Altenheim.«
Wir plauderten noch ein wenig über Gott und die Welt, die Probleme mit den Demenzkranken und deren Angehörigen sowie den bürokratischen Verdruss mit der Gesundheitsbehörde, bis Dr. Webers Piepser einen dezenten Ton von sich gab und sie daran erinnerte, dass sie irgendwo gebraucht wurde.
Wir verabschiedeten uns, nachdem ich mich für die ausführliche Auskunft bedankt und versprochen hatte, ihr eine Kopie meines Artikels zu schicken. »Aber bitte ohne Nennung meines Namens«, schärfte sie mir ein, und ich wandte mich zum Gehen.
»Da fällt mir noch etwas ein«, hielt sie mich an. »Wir haben Herrn Mortimer natürlich gefragt, wo er hier wohne, worauf er erklärte, er steige immer in der Pension Alpenblick ab, habe das auch früher getan, als seine Frau noch lebte. Vielleicht habe ich das schon am Anfang erwähnt, jedenfalls haben wir dort angerufen, aber – und jetzt kommt der Hammer! – die Leute dort haben noch nie von einem Mortimer gehört, weder mit noch ohne Frau. Wirklich seltsam, finden Sie nicht auch?« Ehe ich mich dazu äußern konnte, war sie verschwunden.
Vom Auto aus rief ich Carol an, die sich mir nach kurzer Überlegung angeschlossen und unterdessen die Einkaufsstraßen Rosenheims unsicher gemacht hatte. Ich verabredete mich mit ihr vor dem Bahnhof an unserem, angesichts der meist knappen Parkplätze üblichen Treffpunkt.
Als ich ein paar Meter gefahren war, hatte ich eine Idee und rief Dupont an, der sich schon nach dreimaligem Klingeln meldete. Ich sagte ihm, dass ich mit Carol in Rosenheim sei und dies doch eine gute Gelegenheit wäre, ihn meiner Frau vorzustellen. Er war sofort einverstanden, und wir kamen überein, uns in einer halben Stunde im Café Bergmeister am Max-Josef-Platz zu treffen. Ich rief Carol ein zweites Mal an und erfuhr, dass sie sich im Augenblick gar nicht weit vom Max-Joseph-Platz entfernt aufhielt, sodass auch ich direkt den Ort unserer Verabredung aufsuchen konnte.
Als ich das Lokal betrat, sah ich, dass Carol bereits vor mir eingetroffen war und sich an einem Tisch am Fenster niedergelassen hatte. In ihrer hellen Bluse
Weitere Kostenlose Bücher