Nebenwirkungen (German Edition)
eigentlich ausgerottet werden sollten, künstlich herzustellen«, bemerkte Kyle.
»In der Tat, das war sozusagen der Paukenschlag, mit dem diese Disziplin weltweit bekannt wurde. Ihre Frage ist natürlich berechtigt. Niemand kann daran interessiert sein, mehr Polioviren zu produzieren. Das war auch nicht das Ziel dieser Arbeit. Der springende Punkt war, die neue Technologie durch diese Synthese eines bis ins letzte Detail bekannten Biosystems zu überprüfen und zu perfektionieren. Nur wenig später war es dem Team von Craig Venter gelungen, ein anderes Virus vollständig zu synthetisieren. Die Technik funktioniert. Mittlerweile hat man auch das Influenzavirus, das 1918 die verheerende Spanische Grippe ausgelöst hatte, künstlich herstellen können. Wenn man die gesamte Erbmasse derart kontrolliert beeinflussen kann, hat man aber auch die besten Chancen, Krankheitserreger zu neutralisieren oder auszurotten. Ich meine, gerade das Beispiel des Grippevirus zeigt, welches Potenzial in dieser neuen Forschungsrichtung steckt.«
»Absolut einverstanden«, stimmte Kyle zu. »Doch ist es nicht genau dieses Potenzial, das auch ungeahnte neue Probleme oder gar Katastrophen auslösen kann? Ich erinnere mich an den Journalisten, der eine bestimmte Gensequenz per Internet bestellen konnte und ohne weiteres für ein paar Dollar zugesandt bekam. Es war die Erbsubstanz, die DNA des Pockenvirus.«
»Eine betrübliche Geschichte. Die Sendung enthielt allerdings nur Bruchstücke der Pockenviren-Erbsubstanz, und erst noch in veränderter, also ungefährlicher Form. Das Genom des Pockenvirus besteht aus 185'000 so genannten Basenpaaren. Der bestellte Strang enthielt jedoch lediglich 78 Paare. Aber Sie haben recht. Die Synthese fast beliebigen Erbmaterials ist heute bereits kommerziell möglich. Wie bei jeder neuen Technologie ist auch hier die Politik, der Gesetzgeber gefordert. Die Hersteller von DNA müssen verpflichtet werden, ihre Produkte auf gefährliche Sequenzen zu testen und solche Bestellungen nicht auszuführen. Solche Regelungen gibt es bereits, sie müssen aber konsequent durchgesetzt werden.«
Für Samantha klangen diese Worte wie blanker Hohn. Sie glaubte nicht an die Wirksamkeit solcher Kontrollen. Allzu oft hatten scheinbar hinreichende Vorschriften und Gesetze kläglich versagt. Sie dachte an vergleichsweise harmlose Finanzkrisen, die trotz umfangreicher Vorschriften ganze Volkswirtschaften an den Rand des Kollapses gebracht hatten. Die Vorschriften zu Risikokapital und Risikokontrolle waren sogar mehrheitlich eingehalten worden. Doch was nützte die strengste Kontrolle, wenn die Mittel zur Beurteilung der Risiken, die Bewertungsmodelle, versagten?
Wer konnte denn überhaupt wissen, was eine gefährliche DNA-Sequenz war, wenn beliebige Kombinationen von Erbmaterial hergestellt werden konnten, auch solche, die in der Natur niemals existierten? Samantha wollte diese heiklen Fragen nicht jetzt vorbringen. Das war ein Thema für Professor Wolff. Sie freute sich auf eine heiße Diskussion am nächsten Tag.
Die Aussicht vom Balkon ihres Hotelzimmers war großartig. Rechts die Alte Brücke und das gut erhaltene Stadttor mit seinen zwei charakteristischen Rundtürmen. Links das Gässchen mit mehr als einer historischen Kneipe, und in der Mitte das schnell fließende bräunliche Wasser des Neckars vor den grünen Hügeln des Odenwaldes, welche die Stadt einrahmen. Dort drüben musste sich irgendwo der berühmte Philosophenweg hoch über dem Fluss den Hügel entlang winden. Samantha liebte den Atem dieser Stadt, wie sie es nannte. Die Altstadt von Heidelberg atmete Geschichte an jeder Ecke. Berühmtheiten der deutschen Dichtung wie Clemens Brentano, Jean Paul hatten hier gelebt, waren durch diese Gassen geschlendert, hatten wohl in mancher Kneipe eins über den Durst getrunken. Heine, Hölderlin, Göthe hatten der Stadt Gedichte und Geschichten gewidmet. Samantha erinnerte sich auch gerne an die teils giftigen Kommentare Mark Twains über seine Reise an den Neckar. Durch das bloße Wissen um diese Geschichte und Geschichten fühlte sie sich tief verbunden mit diesem Ort.
»Ich unterbreche nicht gerne, aber was hältst du von einem bodenständigen Abendessen?«, fragte Kyle vom Balkon nebenan. Er hatte sie eine Weile bei ihrer blauen Stunde beobachtet.
Samantha nickte lächelnd. »Gute Idee, Knödel mit Bier oder so was müsste doch hier aufzutreiben sein.«
Das Hotel befand sich mitten in der Altstadt. Im Erdgeschoss
Weitere Kostenlose Bücher