Nebenwirkungen (German Edition)
zurückgezogen zu haben, reagierte nicht mehr auf seine Worte. Als sie schließlich schlaff in seine Arme sank, stellte er erschreckt fest, dass ihre Stirn feucht und glühend heiß war. Am frühen Morgen sah er keinen Ausweg mehr. Er rief die Krankenstation an. Der Sanitätsoffizier bestätigte seine Vermutung. Seine Lucy hatte hohes Fieber und musste sofort stationär behandelt werden. Er begleitete den Krankentransport, obwohl die Sanitäter ihn wortreich daran hindern wollten. Das medizinische Zentrum war eher ein modernes, kleines Spital, doch was Ross beeindruckte, waren nicht die vorbildliche Einrichtung und die dezenten, warmen Farben der Wände, sondern die vielen Patienten. Das Spital der Crown of the Seas war ein voll belegter Bienenstock. Eine ältere Schwester bat ihn höflich zu gehen.
»Bitte, Sir, Sie sollten sich nicht hier aufhalten. Sie sehen ja, was hier los ist.«
»Nun, was ist denn hier los?«, fragte Ross verwirrt. Die Schwester bemühte sich sichtlich, beruhigend zu antworten.
»Erkältungen und ein paar Grippefälle. Harmlos, aber das Schiff ist groß.« Beunruhigt zog er sich zurück, nachdem er nochmals vergeblich versucht hatte, mit seiner kranken Frau zu reden.
Die Schwester betrachtete die neue Patientin traurig. Schon wieder musste sie einen dieser mysteriösen Fieberfälle melden. Sie wussten nicht, womit sie es hier zu tun hatten. Sicher war nur, dass es sich nicht um Grippe oder eine andere bekannte Krankheit handelte, dass schon etliche Tote zu beklagen waren und dass sich die Fälle alarmierend häuften. Die Krankheit schien das Kleinhirn der Patienten anzugreifen und nachhaltig zu schädigen. Sie befürchtete, dass die Frau nur eine geringe Überlebenschance hatte. An diesem vierten Tag nach St. Thomas brachen fünf weitere Patienten auf der Station plötzlich unkontrolliert zuckend zusammen wie BSE-Rinder, ein Dutzend weitere Fälle wurden eingeliefert, und der zuständige Sanitätsoffizier musste seinen ersten Notruf an die Hafenbehörde in New York funken, wo sie in ein paar Tagen einlaufen sollten.
London, Docklands
Samantha beobachtete Bastien unauffällig von ihrem Eckbüro aus. Seit der nur zufällig missglückten Entführung wachte sie über den Junior wie die Glucke über ihre Küken. Sie fühlte eine starke Bindung zu diesem Burschen. Vielleicht lag es daran, dass er zwei ihrer wichtigsten Eigenschaften hatte: er war zäh und hartnäckig. Zudem arbeitete er schnell und gründlich. Länger als einen halben Tag konnte man ihn nicht im Spitalbett halten, und nach seiner Einvernahme durch Scotland Yard hatte er unverzüglich seine gesammelten Notizen zuhause eingepackt und war damit kurz darauf in der Redaktion aufgekreuzt. Sein Laptop mit den Recherchen war weg, aber die Ausdrucke und handgeschriebenen Zettel genügten ihm, um den Entwurf des wichtigsten Artikels seiner bisherigen Karriere im Nu zu rekonstruieren. Die jüngsten Ereignisse hatten die Chefredaktion zu einem in der Geschichte des Magazins beispiellosen Schritt bewogen. Die neuste Ausgabe würde nicht zur gewohnten Zeit am Freitag ausgeliefert, sondern ›aus aktuellem Anlass‹ auf den Montag angekündigt. Der Aufmacher dieser Ausgabe bestand aus einem einzigen Wort: Pandemie.
Samantha hatte dafür gesorgt, dass die Ankündigung mit dem notwendigen Gewicht über die Kanäle der Nachrichtenagenturen verbreitet wurde und wartete nun ungeduldig auf Bastiens Rohfassung des Leitartikels. Es blieben ihnen nur noch zwei Stunden, bis der Text zum Druck freigegeben werden musste. Die Anspannung trieb sie aus ihrem Glashaus. Sie wusste, dass sie Bastiens Arbeit nicht beschleunigen konnte, doch das untätige Warten trieb sie an den Rand des Wahnsinns. Lustlos bereitete sie in der Kaffeeecke zwei Becher Espresso zu und schlenderte damit zu ihrem Junior.
»Bin gleich soweit«, brummte er ohne aufzusehen. Samantha stellte ihm einen Becher hin und beschwichtigte:
»Kein Stress. Ich dachte, du könntest so was brauchen.« Er schaute den Becher ungläubig an. Seine Chefin musste schon sehr ungeduldig auf den Artikel warten, wenn sie ihrem Junior Kaffee besorgte.
»Danke, aber ich bin jetzt tatsächlich fertig. Ich drucke ihn dir aus.« Samantha hatte sich nie daran gewöhnen können, Texte nur elektronisch zu bearbeiten. Ihr bevorzugtes Ausgangsmaterial bestand immer noch aus dem bewährten bedruckten Papier, Filzschreiber und Rotstift. Sie setzte sich gleich an Bastiens Arbeitsplatz auf die Kante des
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