Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebenwirkungen (German Edition)

Nebenwirkungen (German Edition)

Titel: Nebenwirkungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
Vom Netzwerk:
Besatzung melden, das ist dir schon klar, Oliver?«
    »Nicht nötig«, antwortete er verlegen grinsend, zu Toms Überraschung. »Mrs. Santini weiß Bescheid. Das hier gehört zu ihrem Reich.« Die Reinigungskolonne als Mitwisser, na wunderbar , dachte Tom, doch er gab sich mit Olivers Erklärung zufrieden.
    »Zeigst du mir jetzt den Trick?« Tom nickte und sie machten sich auf den diskreten Rückweg durch das verwirrende Labyrinth des Ozeanriesen.
     
    Der dritte Tag auf See nach St. Thomas begann wie jeder Tag vor ihm. Die Großbäckerei der Crown of the Seas erwachte als erste. Früh morgens herrschte bereits hektischer Betrieb; lange bevor die ersten Passagiere sich an die Tische des Speisesaals setzten, die zahlreichen Cafés und Restaurants der Royal Promenade die ersten aromatisch duftenden Croissants und silbernen Kännchen mit frisch gebrautem Kaffee und süßer Schokolade auftrugen und die tausend Kellner mit ihren üppig beladenen Frühstückstabletts auf die Decks ausschwärmten. Wie jeden Tag drehte eine kleine Schar Unentwegter oder Schlafgestörter schon vor Sonnenaufgang ihre einsamen Runden auf der Joggingbahn. Und wie jeden Tag bisher erhob sich die strahlende Sonne in einen fast wolkenlosen Himmel. Mit dem Sonnenlicht erwachte die schwimmende Stadt allmählich aus ihrem unruhigen Schlummer. Nach und nach besetzten Sonnenanbeter die Liegestühle rund um den Wasserpark. Im Kinderklub versuchten die stets lächelnden Betreuer die ersten wilden Horden zu bändigen, während die Senioren die Zeit bis zum Lunch mit Wassertreten oder Minigolf überbrückten. Ein ganz normaler Tag also, außer dass Oliver an diesem Morgen nicht mit Tom Sport treiben wollte. Er fühlte sich nicht wohl, hatte einen heißen Kopf und starrte lustlos über die Reling auf die tiefblaue See hinunter.
    »Schlecht geschlafen?«, fragte Tom auf dem Weg zu den Duschkabinen. Die Antwort war ein unverständliches kurzes Brummen. Achselzuckend ließ er den griesgrämigen Jungen allein und ging weiter. Oliver fühlte sich hundeelend. Ziellos schlenderte er über das Deck und stand unvermittelt an der geschwungenen Freitreppe, die in den unteren Poolbereich führte. Er schaute gelangweilt auf das nun schon lebhafte Treiben im großen Becken hinunter, bis sich die Welt um ihn herum plötzlich zu drehen begann. Er glaubte, das Gleichgewicht zu verlieren, wollte einen Schritt zur Seite machen, doch die Beine versagten ihm den Dienst, als wären sie nicht mehr vorhanden. Mit einem gellenden Angstschrei knickte er ein, stürzte hilflos, sich mehrmals überschlagend, die steile Treppe hinunter und schlug heftig mit dem Kinn auf das Pooldeck. Die fassungslosen Zeugen des Vorfalls hörten das grässliche Knacken brechender Knochen, dann blieb der Junge reglos liegen, das Genick gebrochen durch die Wucht, mit der sein Körper den Kopf auf die Planken gepresst hatte. Oliver Stanwood war tot, noch bevor er eine Chance gehabt hatte, seinen Platz im Leben zu finden.
    Seine Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch, als ihr einer der Offiziere die unfassbare Nachricht überbrachte. Sie schloss sich erst lange im Badezimmer ihrer Kabine ein, dann legte sie sich ins Bett und sprach kein Wort mehr. Ross, selbst am Rande der Verzweiflung, musste hilflos zusehen, wie der Lebenswille seiner Frau von Stunde zu Stunde schwächer wurde. Die Herberts wollten den Nachbarn in ihrer schwersten Stunde beistehen, doch weder Sophie noch Tom fanden die richtigen Worte angesichts dieser Katastrophe. Niemand hatte eine Erklärung, wie so etwas geschehen konnte, und niemand ahnte, dass nicht ein Unfall, sondern eine heimtückische Krankheit Oliver getötet hatte. Hätte der Schiffsarzt eine Autopsie durchführen können, wäre die Wahrheit ans Licht gekommen, doch die oberflächliche Untersuchung der Leiche bestätigte lediglich, was jeder Laie von bloßem Auge sehen konnte: Unfalltod durch Genickbruch. Tom machte sich schwere Vorwürfe. Wenn er den Jungen nicht allein gelassen hätte, wäre er bei ihm gewesen, als ihn der Schwächeanfall stürzen ließ, hätte ihn aufhalten, retten können. Wenn - wenn - wenn. Er konnte nicht wissen, dass Oliver auch ohne den fatalen Sturz nur noch kurze Zeit zu leben hatte.
    Ross Stanwood hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Seine Lucy litt Höllenqualen und er konnte ihr nicht helfen. Mit Gewalt musste er sie mehrmals daran hindern, die Kabine zu verlassen, um ihren Oliver zu sehen. Sie schien sich in ihre eigene Welt

Weitere Kostenlose Bücher