Nebenwirkungen (German Edition)
Schreibtischs und begann begierig zu lesen. Er schien sich ziemlich genau an den vorbesprochenen groben Aufbau des Artikels gehalten zu haben. Der lediglich fünfspaltige, knapp zweiseitige Text enthielt die Grundthese, dass eine weltweite Epidemie, eine Pandemie, in vollem Gange war, die totgeschwiegen wurde, die niemand wahrhaben wollte, weil es sich um eine völlig neuartige Krankheit handelte, für die es bisher keine wirksamen Gegenmaßnahmen gab. Bis zur Stunde hatte noch keine offizielle Stelle der betroffenen Länder die Öffentlichkeit gewarnt oder gar Schutzmassnahmen ergriffen. Der zweite Teil des Artikels fasste die Ergebnisse der Recherche zusammen, die Bastien so anschaulich an seine Küchenwand geklebt hatte. Geschickt beschrieb er einige wenige Einzelfälle, welche die rasante Ausbreitung um den Globus besonders drastisch illustrierten. Der Artikel zeigte klar auf, dass die Seuche ihren Ursprung im Grenzgebiet zwischen Botswana und Südafrika haben musste, ohne über die Rolle von BiosynQ oder der Heidelberger Biologen zu spekulieren. Im dritten Teil gipfelte der Text schließlich in einen flammenden Aufruf an die Behörden und die Politik, endlich Farbe zu bekennen und die Gefahr ernst zu nehmen, bevor hunderte, wenn nicht tausende weiterer Opfer zu beklagen wären.
Bastien hatte ganze Arbeit geleistet. Seine Schlüsse schienen Samantha wasserdicht zu sein und ließen sich bei Bedarf detailliert belegen, doch sein gewohnt nüchterner Stil ließ Samantha schmunzeln. Er berichtete hier sachlich emotionslos über eine globale Katastrophe, als handelte es sich um die tägliche Meldung über Verkehrsstaus. Sie schätzte nüchterne Sachlichkeit, aber hier ging es darum, die Leute aus ihrer satten Selbstzufriedenheit zu reißen, den Verantwortlichen gehörig Dampf unter dem Hintern zu machen.
»Sehr gut, Bastien. Die Facts sind auf dem Tisch, jetzt müssen wir nur noch die Verpackung so aufpeppen, dass die Leser die enorme Bombe auch spüren, auf der sie sitzen. Ich will am Montag rauchende Köpfe sehen im DH 5 .« Sie setzte sich neben ihn und gemeinsam überarbeiteten sie den Text, bis Samantha endlich befriedigt zurücklehnte. Mit einem Tastendruck gab sie den fertigen Artikel elektronisch frei für Layout und Probedruck. Zehn Minuten fehlten noch bis zur Deadline.
»Quod erat demonstrandum«, sagte Bastien erleichtert, als sie sich erhoben, um, wohl zum letzten Mal an diesem Samstag, in der gemütlichen Kaffeeecke zu entspannen.
»Was?«,
»Was zu beweisen war, wie der Lateiner sagt«, antwortete Bastien lachend. Er liebte es, sie hin und wieder, wenn keine Gefahr im Verzug war, mit seiner humanistischen Bildung zu beeindrucken. »Ich denke, wir haben die üble Geschichte gut hingekriegt. Jetzt können die Sturköpfe die Tatsachen nicht mehr länger ignorieren oder leugnen.«
»Leugnen schon, da sind die Politiker Spitze. Aber du hast recht, die Fülle des Materials, das du zusammengetragen hast, ist beeindruckend; muss ich neidlos zugeben.« Ihr unerwartetes Lob beunruhigte ihn. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass seine Chefin heute ausnehmend guter Laune war, und das, obwohl draußen die Sonne schien, und er fühlte sich genötigt, Bescheidenheit zu markieren.
»Danke für die Blumen, Sam. Es ist natürlich keine nach wissenschaftlichen Kriterien ausgewählte Stichprobe.« Eifrig begann er, der sichtlich gelangweilten Samantha das Wesen der statistischen Stichproben zu erläutern. Um die unerwünschte Lektion abzukürzen, unterbrach sie ihn schließlich mit einer Zusammenfassung nach ihrer Art.
»Also es müssen einfach genügend zufällige Stichproben ausgewählt werden. Tolle Weisheit. Das habe sogar ich verstanden.« Er gab auf, ging zum Kühlschrank und schnappte sich ausnahmsweise eine Cola, um den Tag seines Triumphs zu feiern. Sein erster Leitartikel!
Irgendwo klingelte leise ein Telefon in der verwaisten Redaktion. Es dauerte eine Weile, bis Samantha begriff, dass es der Apparat in ihrem eigenen Büro war. Sie rannte ins Glashaus und hob den Hörer ab.
»Sam? Sam bist du es?«, brüllte ihr die Mutter mit schriller Stimme ins Ohr, bevor sie ein Wort sagen konnte.
»Mom, ja, was...« Sofort unterbrach sie ihre Mutter. Ihre Stimme überschlug sich beinahe, als sie in ihrem Schmerz herausschrie:
»Tom, dein Vater ...« Sie brach ab, schluchzte hemmungslos. Samantha erbleichte.
»Was ist mit Dad?«, fragte sie zögernd. Nur mit Mühe konnte ihre Mutter das Weinen
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