Nebenwirkungen (German Edition)
unterdrücken. Als sie sich endlich etwas beruhigt hatte, bestätigte sie Samanthas schlimmste Befürchtung.
»Tom ist vor einer Stunde gestorben. Sam, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich ...« Wieder war nur noch ihr herzzerreißendes Weinen zu hören. Erst allmählich begriff Samantha, was ihre Mutter eben gesagt hatte. Fassungslos, mit Tränen in den Augen sank sie auf ihrem Stuhl zusammen und rang nach Worten. Sie versuchte das Unbegreifliche zu verstehen, doch der Wortschwall, der aus dem Hörer quoll, wurde immer wieder von heftigen Weinkrämpfen unterbrochen. Plötzlich endete der Redefluss, die Verbindung war unterbrochen. Samantha suchte fieberhaft nach der Telefonnummer, mit der das Schiff über Satellit erreicht werden konnte. Mehrmals wählte sie und hörte nur das Besetztzeichen. Verzweifelt, mutlos, das Gesicht in den Händen vergraben, saß sie am Schreibtisch.
Die wenigen verständlichen Worte ihrer Mutter hatten sich zu einem grauenhaften Bild verdichtet, schrecklicher als die Visionen in ihren schlimmsten Albträumen. Die Crown of the Seas war innert Tagen vom stolzen, luxuriösen Ozeanriesen zum gigantischen Lazarett, zum auf hoher See treibenden Leichenhaus mutiert. Hunderte Passagiere waren bereits an einer unbekannten Seuche erkrankt, deren Symptome Samantha nur allzu gut kannte. Dutzende waren bereits gestorben, wie ihr Vater und der Sohn des Nachbarn. Hilflos musste die Besatzung zusehen, wie täglich mehr Kranke gemeldet wurden und wegstarben wie die Fliegen. Man hatte die untersten paar Decks zur verseuchten Zone erklärt, sie praktisch hermetisch abgeriegelt. Der große Speisesaal und die Mall, die glitzernde Einkaufsmeile, dienten nun offenbar als erweiterte Krankenstation.
Bastien beobachtete Samantha mit zunehmender Sorge. So niedergeschlagen und gebrochen hatte er sie noch nie erlebt. Er hatte keine Ahnung, was los war, aber er wusste, was in solchen Situationen zu tun war. Nach kurzem Suchen fand er die Cognacflasche, die hier für besondere Fälle lagerte, nahm sie, schnappte ein großes Glas und eilte damit zu ihrem Büro.
London, Richmond House
Am Montagmorgen um neun Uhr platzte die Bombe. Der Leitartikel der mit ungewöhnlicher Spannung erwarteten Ausgabe von Life! mit dem ganz in schwarz gehaltenen Cover und dem nüchternen weißen Titel ›Pandemie‹ verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Radio- und TV-Kanälen. Kein TV-Sender, dessen Frühstückstalks nicht von diesem einen wichtigen Thema des Tages beherrscht wurde. Auch die gewohnte Montagmorgensitzung an der Downing Street Nr. 10 begann nicht mit dem üblichen Austausch belangloser Anekdoten zum Wochenende. Mit steinerner Miene knallte der Prime Minister dem vornehmen, grauhaarigen Secretary of State Sir Gordon Whitney das Magazin vor die Nase und wartete wortlos auf eine Antwort. In seiner Funktion als Gesundheitsminister war Sir Gordon der oberste Chef der nationalen Gesundheitsbehörde, des Department of Health, oder DH, wie jedermann sie nannte. Sir Gordon empfand diese Eröffnung der Sitzung ebenso erniedrigend, wie wenn der PM ihn öffentlich abgekanzelt hätte. Zu seinem Glück kannte er den Artikel, denn Charles Rowley, sein zuverlässiger Permanent Secretary, hatte ihn auf der Herfahrt in der Limousine angerufen und gebrieft. Trotz allem konnte er herzlich wenig dazu sagen und allen Anwesenden wurde sofort klar, dass ihn dieser verwünschte Leitartikel auf dem linken Fuß erwischt hatte. Im Wesentlichen musste er den PM auf die bereits für elf Uhr angesetzte Sitzung mit dem DH und den verantwortlichen Redaktoren des Magazins vertrösten, was dieser stirnrunzelnd zur Kenntnis nahm. Der mächtige Minister hatte sich selten so gedemütigt gefühlt wie an diesem Morgen, und das versprach gar nichts Gutes für die nachfolgende Besprechung mit seinen Untergebenen.
Punkt elf Uhr saßen die zur Krisensitzung aufgebotenen Vertreter des DH, Charles Rowley und Chief Medical Officer Dr. David Howell, zusammen mit der verantwortlichen Chefredaktorin von Life!, Samantha Herbert, dem verantwortlichen Redaktor Bastien Prévost und Professor Robert Barnard, den Samantha unbedingt als ›Berater‹ dabei haben wollte, im Sitzungszimmer des Permanent Secretary und warteten angespannt auf das Eintreffen des Ministers. Ohne die Computeranschlüsse und die moderne Projektionsanlage hätte der in edlem Mahagoni, Teak und dunklem Nussbaum gestaltete Raum in der obersten Etage des DH-Hauptsitzes an der Richmond Terrace in
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