Nebra
Die Arbeit an dem Fall tat ihm sichtlich gut. »Frau Dr. Peters.« Er streckte ihr seine Pranke entgegen. »Welch eine Freude, Sie endlich kennenzulernen.«
Die Archäologin rührte sich nicht. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie da und starrte ihn an. Atemlose Sekunden vergingen. Man hätte glauben können, sie habe ein Gespenst gesehen. Nach einer Weile öffnete sie den Mund. Heraus kam nur ein einziges Wort: »Sie?«
36
Hannah konnte nicht fassen, wen sie da vor sich hatte. Es war der Mann vom Marktplatz, der sie bei ihrem Eintreffen in Wernigerode so unverhohlen angestarrt und fotografiert hatte. Der Mann mit der Halbglatze und der hässlichen Lederjacke. Der Mann, den sie im Verdacht hatte, ihr nachts vor dem Hotel aufgelauert zu haben. »Sie?«, wiederholte sie mit gepresster Stimme. »Pechstein mein Name, Ludwig Pechstein.« Ein unverschämtes Grinsen zerteilte sein Gesicht. Immer noch hielt er ihr seine Hand hin. Sie ignorierte den Gruß und sagte kein Wort. Als dem Mann klarwurde, dass Hannah seine Hand nicht ergreifen würde, zog er sie zurück.
»Sie beide kennen sich?« Die Kommissarin blickte verwundert zwischen den beiden hin und her.
»Von kennen kann keine Rede sein«, sagte Hannah. »Wir sind uns begegnet - wann war das? - am Montag vor sechs Tagen, nicht wahr? Am Brunnen in Wernigerode. Ich habe im Cafe gesessen und Sie ...«
»Ich habe ermittelt.« Pechsteins Grinsen wollte einfach nicht verschwinden.
Die Kommissarin blickte ihn misstrauisch an. »Gibt es etwas, das du mir sagen möchtest, Ludwig?«
»Eine alte Angewohnheit«, sagte der Mann. »Einmal Polizist, immer Polizist, sagt man nicht so?«
»Mag sein, dass man das so sagt«, erwiderte die Archäologin. »Sie wissen schon, dass Sie mir einen Riesenschrecken eingejagt haben. Besonders dieses Herumlungern vor meinem Fenster mitten in der Nacht. Was wollten Sie von mir?« »Von Ihnen? Nichts.« Pechstein zog eine Schachtel Lucky Strike aus der Jacke und reichte sie herum. Hannah zuckte zusammen. Dieselbe Marke wie die Kippe, die sie unter der Platane gefunden hatte. Als er sah, dass niemand sein Angebot annehmen wollte, zündete er sich selbst eine an und steckte den Rest wieder ein. »Jetzt schaut mich nicht so an. Ich erkläre euch das gern ein andermal. Es wird sich alles aufklären, versprochen. Aber jetzt haben wir Wichtigeres zu tun. Ich sollte Frau Peters doch begleiten, damit sie sich etwas ansieht, nicht wahr?« »Die Aufnahmen einer Überwachungskamera?« »Schlaues Mädchen. Kommen Sie.« Pechstein wandte sich um, doch Hannah blieb stehen. »Mit Ihnen gehe ich nirgendwohin.« »Was soll das denn jetzt?« »Nein.«
Der Dicke wandte sich hilfesuchend an die Kommissarin. Ida blickte zwischen den beiden hin und her. »Ich weiß zwar nicht, was da vorgefallen ist«, sagte sie, »aber es ist unerlässlich, dass Sie zusammenarbeiten. Ich habe keine Zeit, mich um Sie zu kümmern, Frau Dr. Peters. Mir wächst die Arbeit gerade über den Kopf. Ich kann Sie nur bitten, Herrn Pechstein zu vertrauen, auch wenn es schwerfällt.« Mit einem strafenden Blick auf ihn fügte sie hinzu: »Er ist nicht so hart, wie er tut. Und du, reiß dich zusammen, Ludwig. Es ist wichtig, dass wir weiterkommen. Wir stehen unter Druck! Und über die Sache eben sprechen wir noch.«
Hannah warf Pechstein einen kurzen, grimmigen Blick zu, dann sagte sie: »Na gut. Aber nur unter der Bedingung, dass Sie mich nicht noch einmal Mädchen nennen.«
»Abgemacht.« Pechsteins Lächeln wirkte eine Spur freundlicher.
»Danke, Frau Dr. Peters«, sagte Ida und wandte sich zum Gehen. »Sie halten sich bitte für weitere Befragungen zu meiner Verfügung, einverstanden?« »Sie erreichen mich übers Handy.«
»Gut. Ich bin dann mal weg.« Sie hob die Hand und ging hinüber zu dem wartenden Streifenwagen. »Wollen wir?«, fragte Pechstein. »Gehen Sie ruhig voran«, sagte Hannah. »Ich muss Sie vorwarnen«, sagte er, während er die Treppe zum Keller einschlug. »Die Bilder sind nichts für schwache Nerven. Ich werde mit Ihnen in den Überwachungsraum gehen. Wenn Sie Fragen haben oder sich unwohl fühlen, immer heraus damit. Ich kann jederzeit unterbrechen.«
Eine knappe halbe Stunde später kam Hannah aus dem Überwachungszimmer, ging die Treppe hinauf und in den ersten Raum rechts vom Gang. Sie konnte die Toilette gerade noch erreichen, ehe sie sich übergab. Mit zitternden Knien ging sie zum Waschbecken, spülte den Mund aus und schöpfte sich Wasser
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