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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Hannah hätte lügen müssen, hätte sie behauptet, dass Michaels Worte sie nicht berührten. Es stimmte, was er sagte. Wäre er auf sie zugetreten und hätte sie über die Scheibe ausgefragt, sie hätte dichtgemacht wie eine Auster.
    Wortlos ging sie an ihm vorbei zum hintersten Teil des Raumes, wo allerlei Ordner standen. Einer der Ordner lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Zeitungsausschnitte waren zu sehen, einer davon aus dem »Thüringischen Boten«, datiert vom 03.05.1988. Hannah überflog die Zeilen. »Entführte Jugendliche wieder zu Hause bei ihren Familien« hieß es in der Überschrift. Darunter war ein grob gerastertes Foto zu sehen, das drei Jugendliche zeigte, die von ernst dreinblickenden Volkspolizisten an ihre Familien übergeben werden. Einer der Jugend liehen, ein hochgewachsener Bursche mit dunklen Haaren, blickte direkt in die Kamera. Es war Michael. Seine Augen waren von dunklen Rändern gezeichnet, und unter dem rechten Auge war ein großes Pflaster zu sehen. Er wirkte hager und ausgemergelt. Dahinter Ludwig Pechstein, damals noch mit etwas mehr Haaren auf dem Kopf und seiner unverwechselbaren Lederjacke.
    »Also gut«, sagte Hannah und wandte sich um. »Ich finde, es ist an der Zeit, dass du mich einweihst. Was weißt du über die Scheibe? Was kannst du mir über diesen geheimen Kult sagen, und was hat das alles mit dem Einbruch und den Entführungen zu tun? Ich bin hier, um Informationen zu bekommen, und ich werde nicht eher gehen, ehe ich sie erhalten habe.« Michaels Augen hatten einen geheimnisvollen, grünen Schimmer. »Dann halt dich gut fest. Denn was ich dir gleich erzähle, wird dich umhauen.«
     
     

       
42
     
    Drei Fotos. Dreimal die Scheibe, doch jedes Mal anders. Gestochen scharf leuchteten die goldenen Symbole auf dem dunkelgrünen Untergrund. Michael spürte die Erregung in sich aufsteigen. Wie jedes Mal, wenn er die Himmelsscheibe sah. »Die Scheibe wurde während ihrer Jahrhunderte andauernden Nutzung fünf Mal umgeschmiedet«, begann er. »Allerdings sind nur drei Veränderungen wirklich maßgebend. Die Phasen, in denen die Scheibe seitlich gelocht und der eine Horizontbogen wieder entfernt wurde, lasse ich mal außer Acht. In Ordnung, beginnen wir mit Phase eins: Fünfundzwanzig Sterne umkreisen die Plejaden, den Voll- und den Sichelmond.«
    »Moment«, unterbrach ihn Hannah. »Woher willst du wissen, dass es sich nicht um ein Sonnensymbol handelt. Die Wissenschaftler sind sich in dieser Frage noch nicht einig.« »Es ist ein Vollmond, ganz sicher.« Michael lächelte geheimnisvoll. »Nur Geduld. Du wirst schon sehen, worauf ich hinauswill. Phase zwei: Die Horizontbögen zur Bestimmung der Sonnenwenden werden angefügt. Und zuletzt Phase drei: Die Sonnenbarke kommt dazu. So weit sind wir uns einig?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Bis auf die Bedeutung der großen Goldscheibe - ja.«
    »Gut. Was mich immer beschäftigt hat, ist die erste Phase - der Ursprung. Sie ist für mich der Schlüssel zu dem Mysterium der Himmelsscheibe. Was genau wurde hier abgebildet und warum? Hast du dir jemals über den Bedeutungswandel Gedanken gemacht, den die Scheibe zwischen der ersten und der zweiten Phase durchlaufen hat?« Hannah runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?« »Gehen wir mal davon aus, dass ich recht habe und die große Goldscheibe den Vollmond symbolisiert, dann war die Himmelsscheibe in ihrem Ursprung eine Mondscheibe und keine Sonnenscheibe. Die Sonnenbarke sowie die Messbögen zur Bestimmung des Sonnenauf- beziehungsweise -Untergangs wurden erst Jahrhunderte später hinzugefügt. Das hat viele Wissenschaftler zu der Annahme verleitet, die ursprüngliche Funktion der Scheibe sei gewesen, die Wanderung der Sonne und damit die Jahreswechsel zu dokumentieren. Gib zu, das war bis vor kurzem auch deine Überzeugung. Warum hätte dich deine Suche sonst zu den Ägyptern geführt?« »Weil sie die Sonne angebetet haben.« Hannah runzelte die Stirn. »Dann glaubst du, die Urform war als reine Mondscheibe ausgelegt? Aber warum ...? Nein, das ist doch absurd.« Sie schüttelte den Kopf, aber Michael sah ihr an, dass ihre Ansichten ins Wanken geraten waren.
    »Ist natürlich nur so eine Theorie, aber nehmen wir für einen Moment mal an, ich hätte recht«, fuhr er fort. »Welche Kultur fällt dir ein, die den Mond angebetet hat? In welcher Kultur ist der Mond mächtiger als die Sonne?«
    Die Antwort kam mit einiger Verzögerung und recht leise. »Babylon.«
    Michael

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