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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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ich. Ich war wie geläutert. Aus meinem Wunsch nach Vergeltung wurde Faszination. Aus der Faszination Begeisterung. Ich sah Dinge, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht auszumalen wagte, Geheimnisse, die die Grundfesten unserer Welt erschüttern konnten. Und ich sah Macht - grenzenlose Macht.« Sein Blick war in weite Ferne gerichtet. »Ihr ahnt gar nicht, wozu diese Scheiben in der Lage sind.«
    »Dann hatte der alte Nietzsche also doch recht«, sagte Karl, und seine Stimme triefte vor Ironie. Michael wirkte, als erwachte er aus einem Tagtraum. »Was meinst du, lieber Freund?«
    »Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Sagt dir das irgendetwas?« Hannah schickte einen warnenden Blick in Karls Richtung. Bemerkungen wie diese konnten sie den Kopf kosten. »Törichtes Geschwätz«, sagte Michael. »Im Gegensatz zu dir habe ich die Angst überwunden. Ich habe auf die andere Seite gesehen. Jenseits des Schreckens liegt die Macht. Der Blick in den Abgrund hat mich stärker gemacht. Und er hat mich zu Hannah geführt. Sie ist der Schlüssel zum Erfolg.« »Warum ich?«, fragte sie mit leiser Stimme. »Es war so prophezeit. Eine Frau wird kommen, die uns das fehlende Siegel bringen wird, hieß es. Aus der Wüste wird sie kommen, das Werk zu vollenden. Du hast uns die letzte Scheibe gebracht, Hannah. Du bist die Auserwählte.« Seine Stimme wurde leiser. »Die Tage der alten Seherin sind gezählt. Sie lebt jetzt schon weit über ihr natürliches Alter hinaus. Sie hat ihren Tod vorausgesehen. Es ist der Lauf der Dinge. Sei unbesorgt; nach ihrem Tod werde ich dich in alle Mysterien einweihen.« »Und die anderen Scheiben?«, fragte Cynthia. »Was wurde aus ihnen?«
    »Annähernd tausend Jahre nach dem Tod des Gilgamesch zerfiel das Reich. Es wurde von innen heraus vernichtet, durch Verrat und Intrigen. Von Menschen, deren Ehrgeiz darin bestand, die Macht der Scheiben zu eigenen Zwecken zu missbrauchen. Die Scheiben wurden gestohlen, umgearbeitet und anschließend vergraben. Sie zu zerstören, traute man sich nicht. Über dreitausend Jahre hat der Zirkel der Schamanen nach ihnen gesucht. Drei von ihnen fand man im letzten Jahrhundert, doch die vierte blieb verschollen. Bis zum Jahr neunundneunzig, ein Jahr vor der Jahrtausendwende. Dass sie zu so einem bedeutsamen Datum gefunden wurde, kann kein Zufall sein. Und jetzt hast du sie uns gebracht. Es fügt sich alles zusammen, erkennst du das nicht?«
    »Von bringen kann keine Rede sein«, sagte Hannah mit unterdrücktem Zorn. »Du hast uns hierhergelockt. Warum hast du die Scheibe nicht an dich genommen, als du es konntest? Damals im Safe des Museums. Wir waren allein. Warum der Einbruch in Begleitung der Wölfe, warum die Entführung von Bartels?«
    »Ein Ablenkungsmanöver. Es sollte den Verdacht von meiner Person ablenken und dich zu der Überzeugung bringen, dass die Scheibe im Safe nicht länger sicher ist. Verstehst du nicht? In der Prophezeiung steht nichts von gewaltsamem Raub, sondern davon, dass uns das Siegel gebracht wird. Das ist wichtig, verstehst du? Hättet ihr mir misstraut, ihr wärt mir nie gefolgt. Außerdem war Pechstein mir immer noch auf den Fersen und kontrollierte jede meiner Bewegungen. Hätte ich die Scheibe damals an mich genommen, ich wäre fünf Minuten später von der Polizei verhaftet worden. Pechstein war, das muss ich leider sagen, der Einzige, der mir gefährlich werden konnte. Er wusste zu viel über mich.« »Ein Wissen, das ihn das Leben kosten wird«, sagte Karl. Michael reckte das Kinn vor. »Er wird ein Opfer des Windgottes. Eine große Ehre. Aber genug geredet. Der Zeitpunkt der Beschwörung rückt näher. Wie lautet eure Antwort?« »Wir müssen darüber nachdenken«, sagte Hannah. »Es ist keine einfache Entscheidung. Du musst verstehen, wie überraschend das alles für uns ist.«
    »Ja«, sagte auch Cynthia. »Bitte gib uns etwas Bedenkzeit.« Michaels Augen verengten sich. Aus zwei Schlitzen blickte er sie misstrauisch an.
    »Eine halbe Stunde. Mehr ist nicht möglich. Das Ritual erlaubt keine Verzögerung.«
    Damit drehte er sich um und verließ die Grabkammer. Die Steintür glitt rumpelnd zurück an ihren Platz.
     
     
61
     
    Karl krallte seine Finger in die steinerne Tür und zog mit aller Kraft. Seine Muskeln zeichneten sich unter dem Hemd ab, und die Sehnen an seinen Armen traten hervor. Er keuchte und schwitzte, doch die Platte gab keinen Millimeter nach. Nach einer Weile trat

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