Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
Vom Netzwerk:
vierhundert Jahre später. Von einem Verbrechen an der Menschlichkeit zu sprechen, wäre die Untertreibung des Jahr-hunderts. Und sie wurde dafür bis heute nicht bestraft. Aber so ist es ja immer, nicht wahr? Wer die Macht hat, darf bestimmen, was Recht und was Unrecht ist«, sagte sie. »Und wenn du mich fragst: Die großen Kirchen sind auch bloß Sekten, nur dass sie es zu Macht, Wohlstand und Ansehen gebracht haben.«
    Michaels Augen glommen in der Dunkelheit. »Ziemlich drastische Ansichten.«
    Hannah zuckte die Schultern. »Wenn du, wie ich, durch die Zeiten gereist wärst und gesehen hättest, wie die Weltreligionen kommen und gehen, dann würdest du es genauso sehen. Es war eine Sünde, was die katholische Kirche damals veranstaltet hat. Hätte sie nur einen Funken Anstand besessen, hätte sie sich danach selbst aufgelöst. Doch wenn es je Schuldgefühle gegeben hat, so wurden sie derart konsequent unter den Teppich gekehrt, dass man nie etwas davon gehört oder gelesen hat. Tja, und was den ersten Mai betrifft, so hat ihn sich die Kirche mittels eines Tricks einverleibt.« »Was für ein Trick?« Michael schaute sie verwundert an. »Das weißt du nicht? Nun, zum Schutz vor den düsteren Mächten und weil dieser heidnische Feiertag einfach nicht totzukriegen war, stülpte man einfach einen eigenen Feiertag darüber. Zu Ehren von Walburga, die zufällig am ersten Mai heiliggesprochen worden war. Nun hat die gute Frau aber rein gar nichts mit dem Festtag zu tun, es ist nur zufällig ihr Namenstag. Genauso gut hätte man die heilige Mechthilde oder die heilige Sieglinde nehmen können. Wie dem auch sei: Nach ihr wurde die Walpurgisnacht benannt. Der Name Beltane geriet in Vergessenheit. Damit war das alte Fruchtbarkeitsfest ein für alle Mal vernichtet.«
    Noch ehe Michael darauf antworten konnte, wurde es unerwartet dunkel. Das Licht, das von oben auf sie herabfiel, verlosch. Ein Schatten hatte sich vor den Felsspalt in der Decke geschoben. Ein Schatten, der das herabfallende Tageslicht gänzlich verschluckte.
     
     
     
     
16
     
    Hannah presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ein unerklärlicher Geruch von vermoderten Pilzen stieg ihr in die Nase, während eisige Kälte ihre Arme und Beine entlangkroch.
    Sie konnte es nicht erklären, aber sie spürte, dass von diesem Schatten Gefahr ausging.
    Das letzte Mal hatte sie sich beim Anblick des Auges der Medusa so gefühlt.
    Der Schatten verschwand, nur um im nächsten Moment wieder aufzutauchen. Es schien, als würde etwas das Loch umkreisen. Michael war ebenfalls beunruhigt. Einer Eingebung folgend, löschten beide das Licht ihrer Taschenlampen. Keiner sagte ein Wort. Es war, als spürten beide, dass es mehr als nur eine Wolke war, die sich vor die Sonne geschoben hatte, mehr als nur ein Wanderer, der von oben in den Spalt hinabblickte. Ein tiefsitzender Instinkt sagte ihnen, dass dies etwas anderes war.
    Hannah berührte Michael am Ärmel und deutete zum Höhlenausgang. »Was ist das?«, flüsterte sie.
    Michael legte seine Hand auf ihren Arm. »Warte hier. Ich seh mal nach.«
    Hannah schüttelte den Kopf. »Ich habe ein komisches Gefühl«, sagte sie mit unterdrückter Stimme. »Wir sollten vorsichtig sein.«
    »Vielleicht ist es nur ein Wanderer«, flüsterte er. »Ich sollte ihn auf jeden Fall warnen. Es ist recht gefährlich, auf der einsturzgefährdeten Decke herumzulaufen. Ich bin gleich zurück.« Er nahm seine Hand von ihrer Schulter und verschwand in Richtung Ausgang.
    Hannah fröstelte. Sie schlang beide Arme um den Körper und hielt ihren Blick weiter hinauf zu der Öffnung gerichtet. Ihr Verstand begann zu arbeiten. Vielleicht war es nur ein Zweig, der im Wind hin- und herwogte, oder der Wipfel eines Baumes, der seinen Schatten genau auf die Erdspalte warf. Sie war fast so weit, ihren eigenen Beschwichtigungsversuchen zu glauben, als sie ein Keuchen hörte. Ein schweres rasselndes Atmen, das sich in der Höhle zu einem unheimlichen Echo verstärkte.
    Das war kein Wanderer. Ebenso wenig ein Rehbock oder Wildschwein. Wenn es überhaupt etwas gab, das so ein Geräusch erzeugen konnte, dann war es ein großer Hund oder Bär. Panik befiel Hannah. Ihr gesamtes Denken wurde nur noch von einem Wunsch beherrscht: raus hier, und zwar schnell! Sie hatte sich gerade entschlossen, hinter Michael herzulaufen, als ein tiefes Knurren ertönte, direkt über ihrem Kopf. Das Wesen, das sie belauerte, musste direkt über der Felsspalte stehen, nur etwa drei oder

Weitere Kostenlose Bücher