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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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stoffliche Qualitäten. Es fühlte sich an wie ein Strom aus purer Energie.
    »Wir nennen die Höhle Fafnirs Hort«, sagte Michael. »Eine Anspielung auf die Nibelungensage.«
    »Der Ort, an dem der Drache den Schatz aufbewahrt, ich verstehe.« Hannahs Augen wanderten über den funkelnden Granit. Sie konnte sich gar nicht sattsehen an den Lichterscheinungen. Plötzlich hielt sie inne. Irgendetwas war dort im Stein - eine Vertiefung, die nicht natürlich aussah. Sie schaltete ihre Taschenlampe an.
    Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Da waren sie - die Hexen, von denen Michael gesprochen hatte. Im Licht der Lampe sahen sie aus, als würden sie in wilden Verrenkungen um ein Feuer tanzen. Waren das natürliche Vertiefungen, oder hatte jemand sie in den Granit geritzt? Sie trat näher und berührte das rauhe Gestein.
    »Du bist gut«, sagte Michael. »Die meisten brauchen länger, um sie zu entdecken.«
    Hannah spürte die Erregung in sich emporsteigen. Ihr Bauch fühlte sich an wie ein Ameisenhaufen. Endlich. Neben den Hexen befand sich eine etwa dreißig Zentimeter breite Vertiefung, in deren Mitte das Symbol einer Schlange zu sehen war. Hannah strich mit ihrem Daumen über das Gestein und prüfte den Abrieb. Eine feine glänzende Schicht bedeckte ihre Fingerkuppe. Glimmer. Freigesetzt durch die Jahr-hunderte währende Erosion. Durch was auch immer diese Darstellungen entstanden waren, sie waren alt. »Weißt du etwas darüber, wie die entstanden sind?« Michaels Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln. »Die landläufige Meinung lautet, dass es keine Ritzungen, sondern Erosionsprozesse waren, die zu diesen Formen geführt haben. Auswaschungen in irgendeiner Form. Die Strukturen haben nur zufällig die Gestalt von tanzenden Hexen angenommen, ähnlich wie bei der Rosstrappe, die eben nur zufällig die Form eines riesigen Pferdehufs hat.« »Und was ist deine Meinung?«
    Ein geheimnisvolles Leuchten war in seinen Augen zu sehen, das jedoch ebenso schnell verschwand, wie es aufgetaucht war.
    »Ich halte sie für Kunstwerke längst vergangener Zeiten. Aber weder bin ich ein Experte, noch möchte ich, dass sie allzu große Aufmerksamkeit erregen. Ich finde es gut, wenn manche Dinge ihr Geheimnis bewahren.«
    »Die Höhle ist sensationell«, sagte Hannah. »Eigentlich müsste sie doch in jedem Reiseführer vermerkt sein. Wie kommt es, dass ich noch nie etwas von ihr gehört habe?«
    »Vermutlich, weil sie so abseits gelegen ist«, sagte Michael. »Zu schwer zu erreichen und mit zu vielen Risiken behaftet. Solange die Höhle unbekannt bleibt, brauchen die Behörden sie nicht abzusperren.«
    Sie fuhr fort, mit der Hand über den rauhen Stein zu streichen. »Wirklich wunderschön. Danke, dass du mir das gezeigt hast.«
    »Das geschah nicht ohne Hintergedanken«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Endlich habe ich mal eine Expertin an meiner Seite. Ein Moment, auf den ich lange gewartet habe.« Hannah bedachte ihn mit einem schiefen Blick. »Was willst du wissen?«
    Ein Leuchten erschien auf Michaels Gesicht. »Angenommen, nur mal angenommen, die Bilder wären tatsächlich das Werk irgendwelcher altgermanischer Künstler, könnte es dann nicht vielleicht etwas mit den Erbauern der Himmelsscheibe zu tun haben?«
    »Nun, möglich wäre es schon. Es könnten aber auch die Hermunduren, die Chatten oder die Cherusker gewesen sein. Schwer zu sagen. Es gibt keinerlei Darstellungen so hoch in den Bergen, dafür waren diese Gegenden einfach zu unwirtlich und zu abgelegen für Menschen.« »Für Menschen vielleicht, nicht aber für Hexen.« »Du immer mit deinen Hexen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ganze Land scheint irgendwie von dem Gedanken an buckelige, wunderwirkende Weiblein infiziert zu sein. Dabei ist das Wort an sich schon eine Unsinnigkeit. Wusstest du, dass der Begriff nur durch falsche Aussprache in unseren Wortschatz eingegangen ist?« »Inwiefern?«
    »Die Germanen nannten ihre weisen Frauen Hagszissen: ‚die im Hain Sitzenden‘. Der Überlieferung zufolge besaßen diese weisen Frauen magisches Wissen und Heilkräfte. Was aber zu Beltane, dem keltischen Frühlingsfest, noch viel wichtiger war: Sie beherrschten die Kunst der Weissagung.« Sie lächelte. »Du weißt schon, die heilige Hochzeit des Männlichen und Weiblichen, die Verbindung von Sonne und Erde. Die ewige Frage nach Partnerschaft, Glück und Zufriedenheit. Vermutlich war es eine einzige große Partnervermittlung, bei der diverse Kräuter und

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