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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Entfernung aus. Geistesgegenwärtig änderte sie die Richtung. Ihr Ziel war die kleine Waldhütte, die einen halben Kilometer hangabwärts lag. Sie stand das ganze Jahr über offen und ließ sich, wenn sie sich recht erinnerte, von innen mit einem Holzbalken verriegeln. Aber war sie stabil genug, um den zwei Verfolgern den Zugang zu verwehren? Als Erstes musste sie sie überhaupt mal erreichen. Wenn sie Glück hatte und lange genug aushielt, konnte sie ihrem Mann die nötige Zeit verschaffen, das Forsthaus zu erreichen und Hilfe zu holen.
    Von neuem Mut beflügelt, sprang sie über einen niedrigen Stacheldrahtzaun, vorbei an mannshohen Felsen und über Wurzeln hinweg, die sich aderngleich quer über den Weg zogen. Sie kannte die Strecke gut genug, um im schwachen Licht der Dämmerung den Weg zu finden. Jeder Fehltritt, jeder Sturz konnte zum Verhängnis werden. In der Ferne sah sie bereits das Dach der Waldhütte aus dem Dickicht auftauchen. Schon konnte sie die soliden Holzstämme erkennen, aus denen sie gezimmert war. Plötzlich hörte sie, wie etwas hinter ihr über den Kiesweg preschte. Sie hörte das Peitschen von Zweigen und ein schauerliches Keuchen. Nicht umdrehen, zwang sie sich. Bloß nicht stolpern. Bloß nicht vom Weg abkommen. Sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen, wie ihre Beine schwächer wurden. Nur noch ein paar Meter. Mit dem letzten Funken Überlebenswillen erreichte sie die Hütte. Die Tür stand offen. Gott sei Dank! Sie stürmte hinein und schlug sie krachend zu. Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung warf sie den hölzernen Riegel vor die Tür und verschloss die Fensterläden.
    Dann erwartete sie den Angriff.
    Im Inneren der Hütte war es stockfinster. Nur durch die Ritzen im Holz fiel noch etwas Licht. Schwer atmend und betend, dass der Riegel halten möge, wich sie zurück. Wie knapp ihr Vorsprung gewesen war, wurde ihr erst bewusst, als die Hütte von einem ohrenbetäubenden Krachen erfüllt wurde. Einmal, zweimal. Der Stapel Brennholz, den der Förster neben der Tür aufgerichtet hatte, fiel unter dem Ansturm in sich zusammen. So heftig waren die Schläge, dass sich ein Balken aus dem Dachstuhl löste. Dreck, Staub und einen letzten schwachen Schimmer Tageslicht mit sich führend, fiel er polternd neben der Frau zu Boden. Mit vor Angst zitternden Händen hob sie ihn auf. Er war viel zu groß und zu schwer, um ihn als Waffe zu benutzen, aber sie hatte nichts anderes. »Geht weg«, wimmerte sie, während sie das Holz ungelenk hin und her schwang. »Geht doch einfach weg.«
    Als hätten sie ihr Flehen gehört, stellten die Angreifer ihre wütenden Attacken ein. Stattdessen verlegten sie sich darauf, das Haus nach Schwachstellen zu untersuchen. Immer wieder umrundeten sie die Hütte, schnüffelten hier, scharrten dort und stießen dabei Laute aus, die man mit viel Phantasie als Sprache hätte bezeichnen können. Der Frau wurde immer deutlicher bewusst, dass diese Wesen sich überhaupt nicht wie Tiere verhielten. Dieses vorausplanende Handeln, dieses ausgeklügelte Teamwork und jetzt noch diese Laute - es passte einfach nicht zusammen. Nichts an ihrem Verhalten deutete auf Tiere hin. Es war, als habe sich der Geist eines Menschen in den Körper eines Tieres geflüchtet, um eine Kreatur von abgrundtiefer Bösartigkeit hervorzubringen. Das Scharren hörte abrupt auf. Die Frau lauschte.
    Einige bange Sekunden lang glaubte sie Schritte zu hören, die sich entfernten. Hoffnung keimte in ihr auf. Vielleicht hatten die beiden die Jagd aufgegeben. Vielleicht hatten sie eingesehen, dass es sinnlos war, mit dem Kopf gegen die Bretterwand zu rennen. Doch die Hoffnung war nur von kurzer Dauer. Ein Schlag, mächtiger noch als alles Vorangegangene, erschütterte die Hütte in ihren Grundfesten. Der Riegel ächzte und stöhnte unter dem Angriff. Wie es schien, warfen sich jetzt beide Angreifer gleichzeitig gegen die Tür. Einem solchen Ansturm hatte die Barriere nichts entgegenzusetzen. Mit einem trockenen Knacken brach der Riegel entzwei und fiel zu Boden. Die Tür schwang auf. Der Geruch von verrotteten Pilzen breitete sich in der Hütte aus. Licht fiel auf die gekrümmten Gestalten, die sich langsam in die Hütte schoben. Der Anblick der beiden wolfsartigen Kreaturen mit ihren geifernden Mäulern und ihren menschlich anmutenden Extremitäten war zu viel für die Frau. Der Balken entglitt ihren kraftlosen Händen und fiel zu Boden. Ihre Blase entleerte sich mit plötzlicher Heftigkeit.
    Als die

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