Nebra
über ihr Gesicht. Sie hatten sich geliebt - und wie. Hannah konnte ihn immer noch spüren und riechen. Sein Duft hüllte sie ganz und gar ein. Wie von selbst glitten ihre Hände an sich herab, ein Echo seiner Hände, seiner Liebkosungen. Wenn nur nicht dieser seltsame Traum wäre. Was hatte er zu bedeuten? Die Bilder in ihrem Kopf wollten einfach nicht weichen. Sie verdrängte den Gedanken, verschwand im Bad und genehmigte sich eine ausgiebige Dusche.
Als sie nach unten ging, war der Traum nur noch ein Schatten.
Michael war bereits auf und hantierte in der Küche. Sie lächelte, als sie ihn sah. Was für ein kluger, aufmerksamer und intelligenter Mann. Und was für ein verdammt guter Liebhaber. Dass er sie begehrte, schien außer Frage. Eigentlich sollte sie jetzt zu ihm hinübergehen und ihn umarmen, doch sie tat es nicht. Was hielt sie zurück? Und warum musste sie gerade jetzt an John denken? Unschlüssig stand sie in der Tür und sah ihm zu. Vermutlich ging ihr die Sache zu schnell. Die Zeit ihrer Bekanntschaft ließ sich in Stunden bemessen. Gewiss, sie fühlte sich zu ihm hingezogen, doch wie konnte man annehmen, in dieser kurzen Zeit jemanden wirklich zu kennen? Seine Worte von gestern kamen ihr in den Sinn: Du bist etwas ganz Besonderes. Sie war immer noch ganz in Gedanken versunken, als er sich umdrehte. »Hallo Hannah. Wie schön, dich zu sehen. Du kommst gerade richtig.«
Er stellte die Pfanne ab und gab ihr einen zarten Kuss auf die Wange. »Setz dich doch«, sagte er. »Was magst du? Rührei, Speck, Orangensaft?«
»Ich glaube, ich brauche erst mal eine starke Dosis Koffein«, sagte sie und setzte sich an den Tisch. Sie griff nach der Kanne und schenkte ihnen beiden ein. Die Hände um die große Tontasse geschlossen, nippte sie an dem heißen Kaffee. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen«, sagte Michael. »Hast du das Gewitter gehört letzte Nacht? Es ist direkt über unsere Köpfe gezogen. Das war vielleicht ein Lärm. Der Sturm hat einige Blumenkübel auf der Terrasse umgeweht. Ich musste noch mal aufstehen und einige Fenster schließen.« Er redete wie ein Wasserfall, und es wurde immer deutlicher, dass ihn die letzte Nacht genauso aufgewühlt hatte wie sie. So schwer es ihr auch fiel, aber sie musste seinen Eifer bremsen. »Ich muss fort«, unterbrach sie ihn. »Gleich nach dem Frühstück.«
Er stand da, die Pfanne mit dem Rührei in der Hand, und sagte kein Wort. Nach einer Weile nickte er. »Ja, ich weiß«, sagte er. Er stellte die Pfanne auf dem Tisch ab und legte einige frisch geröstete Scheiben Brot daneben. »Obwohl ich es sehr bedauere. Die letzte Nacht war wunderschön.« Er gab ihr etwas Ei und Toastbrot auf den Teller und schenkte ihr Orangensaft ein.
»Das war sie.« Hannah begann zu essen. Während sie kaute und den Bissen mit einem Schluck Saft herunterspülte, überlegte sie krampfhaft, wie sie weiter vorgehen sollte. Sollte sie freundlich sein oder abweisend? Sollte sie warten, bis er etwas sagte, oder das Gespräch selbst in die Hand nehmen? Das Ticken der Küchenuhr drang unangenehm laut in ihre Ohren. Ab einem bestimmten Punkt meinte sie, das Schweigen nicht mehr ertragen zu können.
»Ich brauche Zeit, Michael. Ich muss mir über einige Sachen klarwerden - wo ich stehe, wo ich hinwill. Außerdem wartet mein Job auf mich. Wenn ich nicht binnen weniger Wochen weiterkomme, bin ich ihn los. So schön die letzten Tage mit dir auch waren, aber es gibt andere Dinge, die im Moment Vorrang haben.« Sie hob den Kopf und blickte ihm in die dunkelgrünen Augen. »Hab einfach ein bisschen Geduld mit mir, in Ordnung?«
Er nickte wie ein Schuljunge, der gerade getadelt worden war. »Geduld gehört nicht gerade zu meinen Stärken.« Er stand auf und kam auf sie zu. Langsam ging er um sie herum und küsste ihren Nacken. Sein Atem strich über ihren Haaransatz und erzeugte eine Gänsehaut, die sich über ihren gesamten Rücken zog.
»Bitte nicht«, flüsterte sie. Seine Küsse brachten sie um den Verstand. »Das macht alles noch komplizierter.«
»Ich weiß«, sagte er. Weitere Küsse bedeckten ihren Hals und ihre Schultern. »Aber was soll ich machen?« Seine Stimme war nur mehr ein Flüstern. »Ich bin dir nun mal hoffnungslos verfallen.«
Mit diesen Worten begann er, ihr das Hemd aufzuknöpfen.
24
Es war kurz vor elf, als Ida Benrath mit ihrem Assistenten am Krankenhaus in Braunlage eintraf. Schwungvoll stellte sie den X5 auf dem Parkplatz ab. Als sie ausstieg,
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