Nebra
jede Bewegung war exakt vorausberechnet. Die Routine hatte sie wieder. Als sie ihren BMW X5 aus der Garage fuhr, war sie hellwach.
Knapp zehn Minuten später hatte sie ihr Auto auf dem Parkplatz des Landeskriminalamtes in der Lübecker Straße abgestellt und lief die Treppen zu ihrem Büro hoch. Da dieses im sechsten Stock lag und sie die Strecke mehrmals täglich zu-rücklegte, sparte sie sich das allmorgendliche Joggingtraining, das viele ihrer Kollegen so gewissenhaft absolvierten. Soweit ihr bekannt war, war sie die Einzige im ganzen Haus, die niemals einen der Aufzüge benutze. Diese Eigenheit und ihre zierliche Körpergröße von eins fünfundfünfzig hatten ihr den Spitznamen der laufende Meter eingebracht, ein Name, der noch aus ihrer Ausbildungszeit stammte und den sie mittlerweile mit Humor nahm.
Für diese frühe Morgenstunde herrschte in der Zentrale bereits rege Betriebsamkeit. Tastaturen klackerten, Telefone klingelten, und die Kaffeemaschinen brummten auf Hochtouren. Kommissar Steffen Werner, dem sie es zu verdanken hatte, dass sie so früh aus den Federn gerissen worden war, erwartete sie bereits.
»Moin, Ida«, begrüßte er sie - eine Eigenart, die er aus seiner Heimatstadt Oldenburg mitgebracht hatte. »Kaffee gefällig?« Steffen war vor zwei Jahren hierher versetzt worden und war seitdem Idas engster Begleiter. Ein netter Kerl mit strohblonden Haaren, durch die man die rosige Kopfhaut schimmern sehen konnte. Ein Talent in Sachen Verhören und einer der besten Schützen in ihrer Abteilung. »Klar. Und das Wichtigste in Kürze.«
»Tut mir leid, dass ich dich so früh rausholen musste. Anweisung vom Chef«, sagte Steffen, während er ihr eine Tasse Kaffee eingoss. »Ist 'ne komische Sache. Die Meldung kam heute Nacht über das Kommissariat Braunlage rein. Zwei Wanderer wurden gestern Abend angeblich in der Nähe des Brockens von Hunden angefallen. Einer der beiden - eine Frau, einundvierzig Jahre alt - wird seitdem vermisst.« Ida schlürfte an ihrem Kaffee. »Und wieso landet das auf meinem Tisch? Das klingt mir eher nach einem Fall für den städtischen Tierfänger.«
»Ja, weißt du, es wurde bereits eine Suchmannschaft zu der besagten Stelle geschickt. Keine Spur bisher.« »Ich verstehe nicht, was das mit uns zu tun hat. Im schlimmsten Fall haben die Hunde die Frau getötet und ins Gebüsch gezerrt. Die sollen einfach noch mal los und den Ort bei Tageslicht untersuchen, statt uns hier auf die Nerven zu gehen. Ist doch nicht unser Ressort.«
Steffen hatte sich ebenfalls eine Tasse Kaffee geholt und ließ sich in seinen Stuhl fallen. »Ganz so einfach ist es nicht. Es gibt da nämlich noch die Aussage des Mannes, der steif und fest behauptet, die zwei Hunde deutlich gesehen zu haben. Was in dem Bericht steht, liest sich sehr merkwürdig. Wenn du möchtest, kannst du ja mal einen Blick reinwerfen.« Er deutete auf ein paar Ausdrucke, die mit einer Büroklammer zusammengehalten wurden.
Ida, deren Laune bei ihrer Anfahrt schon nicht die beste gewesen war und die sich während der letzten Minute noch mal um einige Grad abgekühlt hatte, griff nach den Blättern und begann sie zu überfliegen. Schon nach dem ersten Absatz wurde sie langsamer und stockte schließlich ganz. Die Stirn in Falten gelegt, blickte sie auf. »Das ist doch ein Witz, oder?« »Der Chef meint, es sei was Ernstes.«
Sie begann noch einmal von vorne, diesmal langsam und gründlich. Als sie das zweieinhalb Seiten lange Protokoll durchhatte, legte sie das Papier zurück auf den Tisch. »Reden wir jetzt von Hunden oder was?«
Steffen richtete sich auf. »Das herauszufinden ist unsere Aufgabe. Der Mann behauptet, es seien keine Caniden gewesen. Er ist Biologe, verstehst du? Benutzt gern Fachausdrücke.« »Ich weiß, was Caniden sind.«
Steffen räusperte sich. »Ja also ... jedenfalls sagt er, es sei etwas gewesen, das er noch nie zuvor gesehen hat. Er hat die Viecher als eine seltsame Mischung aus Mensch und Tier beschrieben. Er machte allerdings einen ziemlich verwirrten Eindruck. Tatsache ist, dass die Hütte, in die die Frau sich geflüchtet hat, gewaltsam aufgebrochen wurde. Die Leute vom Einsatzteam behaupten, dass kein Hund dazu in der Lage gewesen wäre. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass vielleicht doch menschliche Einwirkung vorliegt und wir es hier mit einer Entführung oder Schlimmerem zu tun haben.« »Wo ist der Mann jetzt?«
»Im städtischen Krankenhaus in Braunlage. Sie haben ihn ruhiggestellt, er ist
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