Nebra
aber, wie der Arzt mir bestätigte, eingeschränkt vernehmungsfähig.«
Ida trank den Rest ihres Kaffees leer. »Wenn es wirklich ein Vermisstenfall ist, dann wäre das in diesem Monat bereits der dritte. Und dann wäre klar, warum das auf unserem Tisch gelandet ist.« As sie auf das Papier blickte, musste sie den Kopf schütteln. »Mann, wie ich diese Walpurgiszeit hasse. Irgendwie scheinen da immer alle durchzudrehen. Stell mir ein Spurensicherungsteam zusammen. Die sollen schon mal zu der besagten Stelle fahren und ohne uns anfangen. Hoffentlich hat dieser Suchtrupp nicht bereits alle Spuren verwischt. Wir beide machen uns zunächst mal auf den Weg ins Krankenhaus. Ich will den Mann sprechen.«
23
Hannah wälzte sich im Halbschlaf hin und her. Sie wusste, dass sie träumte, doch das machte die Sache nicht angenehmer. Sie sah einen Raum, der nur von Feuer erhellt war. Ihr Kopf schmerzte vom Dröhnen irgendwelcher Pauken, die abseits ihres Sichtfeldes geschlagen wurden. Laut war es hier drin, laut und stickig. Der Raum war bis zu den Wänden angefüllt mit Menschen in seltsamer Verkleidung. Manche trugen lange Gewänder, andere wiederum steckten in einer Art Rüstung. Die Frauen trugen zumeist eine helle Toga aus dünnem Stoff, die an Hüften und Brüsten anlagen und die Haut durchschimmern ließen. Fast alle hatten Masken auf, einige waren geschminkt. Viele trugen einen seltsamen Kopfputz, und alle, ausnahmslos alle, waren mit wertvollem Schmuck behängt. Die Gesichter waren von gespannter Erwartung erfüllt. Manche freudig, manche ängstlich, blickten sie alle in ihre Richtung. Räucherwerk wurde abgebrannt und erfüllte die Höhle mit zähem Nebel, der nach Amber und Myrrhe roch und die Atemwege reizte. Hannah bemerkte, dass sie auf dem Rücken lag, während alle anderen um sie herumstanden. Dieser Umstand war umso bemerkenswerter, als sie die Einzige zu sein schien, die unbekleidet war. Sie versuchte sich aufzurichten, doch es ging nicht. Irgendetwas hielt sie zurück. Sie blickte an sich hinab und erkannte, dass ihre Arme und Beine an einen schwarzen, glänzenden Stein gefesselt waren. Jetzt näherte sich von vorn eine Gestalt, gehüllt in Felle, Blätter und getrocknete Farnwedel. Hannah dachte zuerst, es würde sich um einen Troll oder einen Waldgeist handeln, doch dann erkannte sie, dass es ein Mann war. Seltsame Hörner standen von seinem Kopf ab, die ihn wie ein Tier wirken ließen. Ein überwältigender Geruch nach Walderde und Pilzen breitete sich aus. Der Mann hob seine Arme, und der Lärm in der Höhle erstarb. In der einen Hand hielt er einen geschnitzten Knochen, in der anderen einen langen Dolch. Die Art, wie er sich bewegte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie musste sich wieder besinnen, dass dies ein Traum war - sie spürte es. Schon oft hatte sie Ähnliches geträumt, und immer hatte der Spuk aufgehört, sobald sie sich klargemacht hatte, dass sie nur schlief. Nicht so heute. Wie es schien, hatte dieses Wesen Macht über sie. Selbst über den Zustand des Schlafens hinaus. Hannah wehrte sich. Sie wälzte sich hin und her. Sie wollte erwachen, aber es gelang ihr nicht. Der Mann hielt sie fest, zerrte sie zurück ins Reich der Träume, während er langsam das Messer hob. Ein bösartiges Totengrinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Die Klinge glänzte blutrot im Schein der Fackeln. Wie aus dem Nichts erhob sich plötzlich im Hintergrund ein weiteres rätselhaftes Wesen. Es hatte ein doppeltes Paar Flügel und spie Flammen. Ein infernalisches Rauschen erfüllte die Höhle, während das Wesen mit feurigem Atem näher und näher kam. Hannah wollte schreien, aber sie bekam keinen Ton heraus. In einer letzten verzweifelten Anstrengung riss sie sich los, rollte sich seitlich vom Stein - und erwachte. Die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochgezogen, lag sie da und lauschte. Irgendwo klapperten Teller.
Großer Gott, dachte sie, was für ein Traum. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals solche Ängste durchlitten zu haben. Schwer atmend setzte sie sich auf. Bildete sie sich das ein, oder stank es hier nach vermoderten Pilzen? Sie sah sich um und versuchte sich zu orientieren. Tageslicht fiel durch die Jalousien und bildete helle Streifen auf dem Bett. Sie stand auf, zog den Rollladen hoch und blickte über eine weiße, von Rauhreif überzogene Landschaft.
Mit einem Mal fiel ihr alles wieder ein. Sie war bei Michael. Sie hatte die Nacht bei ihm verbracht. Ein Lächeln strich
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