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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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gebracht hatte. Seine blassblauen Augen sowie sein grauer Arbeitsanzug unterstrichen den Eindruck eines kühlen, humorlosen Beamten. Dabei gehörte Gaspar Kaminski zu den warmherzigsten und humorvollsten Menschen, denen Ida während ihrer Jahre als Kriminalbeamtin begegnet war. Der Leiter der Spurensicherung war privat ein eher stiller Zeitgenosse, doch hatte er sich in den letzten Jahren als überaus hilfsbereit und entgegenkommend erwiesen, wenn sie mit irgendwelchen Fragen in sein Labor gekommen war. Und das war häufig der Fall gewesen. Die Spurensicherung war der Ort, an dem sie sich am zweithäufigsten aufhielt, gleich nach ihrem eigenen Büro. Kaminski war jemand, der sich nicht aus der Ruhe bringen ließ, mochte die Kommissarin noch so hektisch und ungeduldig sein. Selbst während der wirklich schlimmen Fälle, wenn sie nur noch ein Nervenbündel war, hatte er immer ein freundliches Wort und ein Lächeln für sie übrig gehabt. Doch nicht heute.
    Ida spürte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. »Was ist los, Gaspar?«, fragte sie.
    »Da sind Sie ja endlich«, sagte Kaminski. »Dachte, Sie kommen überhaupt nicht mehr.« Er sprach mit einem kräftigen polnischen Akzent. Eine Eigenheit, die er über die Jahre bewahrt und gepflegt hatte, als hätte er Angst, mit seinem Dialekt einen Teil seiner Identität zu verlieren. Ida mochte den weichen Ton seiner Stimme und die Art, wie er die einzelnen Silben dehnte. »Die Straße von Braunlage war wegen Waldarbeiten unpassierbar«, sagte sie.
    Kaminski nickte. »Wie war's im Krankenhaus?« Ida hob die Hand und zeigte ihm die Verletzung, die der Patient ihr beigebracht hatte. Vier halbmondartige und dunkelblau angelaufene Druckstellen. Auf seinen fragenden Blick hin erläuterte sie: »Dieser Mann muss etwas gesehen haben, das ihn zutiefst erschreckt hat. Schwere traumatische Störung. Ehrlich gesagt, ich habe nur die Hälfte von seinem Gestammel verstanden.«
    »Hat er identifizieren können, was ihn da angegriffen hat?« Ida blickte verwundert. Diese Neugier war für Kaminski ungewöhnlich. Normalerweise war er derjenige, der andere mit Neuigkeiten versorgte.
    »Nichts wirklich Konkretes«, sagte sie. »Hat etwas von Menschen in Tiergestalt gefaselt. Ich fürchte, ich muss auf die Ergebnisse warten, die Sie mir liefern können.« Kaminski bedeutete Ida und Steffen, ihm zu folgen, sagte aber kein Wort. Sein Schweigen konnte nichts Gutes bedeuten. Überall auf der mit Heide bewachsenen Kuppe der Achtermannshöhe waren Markierungsleinen gespannt. Die Kollegen der Spurensicherung hockten in ihren weißen keimfreien Anzügen am Boden, Pinzette und Plastikbeutel in der Hand, auf der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Während Kaminski sie zum Tatort führte, musste Ida immer wieder Felsbrocken ausweichen, die in kreisförmigen Mustern verteilt lagen, als wären sie wie Pilze aus dem Boden gewachsen. Ein kräftiger Wind blies aus Westen, der dunkle Wolken mit sich führte, Vorboten für das neuerliche Gewitter, das die Meteorologen für heute Nacht angekündigt hatten. Schon komisch, dachte sie, wie sich die letzten Abende vor dem ersten Mai ähnelten. Immer neue Gewitter, gepaart mit diesem seltsamen Wetterleuchten - und immer pünktlich um Mitternacht. Wäre sie abergläubisch veranlagt, so wie einige ihrer Kollegen, sie wäre an diesen Fall mit großen Vorbehalten gegangen. Doch Esoterik interessierte sie nicht. Horoskope, Astrologie, Tarotkarten und Kaffeesatzlesen, all das fiel bei ihr auf unfruchtbaren Boden. Das betraf im Übrigen auch den ganzen Hexenquatsch, der in dieser Gegend zu Walpurgis abgehalten wurde. Das Gerede über Kobolde, Dämonen und Erdgeister war in ihren Augen nichts weiter als eine neue Idee, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Eine raffinierte, als Folklore getarnte Abzocke.
    Der Weg führte talwärts, in Richtung Waldhütte. Kaminski hatte offenbar nicht vor, sie mit der ganzen Vorgeschichte zu langweilen, sondern führte sie direkt zum Corpus Delicti. Umso besser. Ida vergrub ihre Hände in den Taschen. Sie konnte es kaum erwarten, den Schauplatz des Verbrechens endlich in Augenschein zu nehmen.
    Es dauerte nicht lange, da erblickte sie zwischen den Fichtenstämmen das hellerleuchtete Waldhaus. Der Leiter der Spurensicherung deutete auf einen mit Teerpappe gedeckten Dachfirst, der zwischen den Zweigen hervorlugte. Die Ermittlungen waren in vollem Gange. Etwa zehn Beamte in weißen Plastikanzügen tummelten sich rund

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