Necromancer - The Death of the Necromancer
jetzt nicht weiter, Nic. Wenn ich den verdammten Brief von Bran verbrannt
hätte, statt ihn aus Sentimentalität aufzuheben, wenn ich Verdacht geschöpft hätte, als er auf einmal nicht mehr da war, statt es auf meine Schlamperei zu schieben, wäre der kleine Narr noch am Leben. Und wenn ich mir diese Fehler immer wieder vorhalten würde, dann wäre ich wahrscheinlich genauso der Opiumsucht und dem Selbstmitleid verfallen wie dein Freund, der Zauberer.«
Nicholas atmete ruhig aus und schwieg. Er wusste, dass er nach Arisildes letztem Anfall etwas ganz Ähnliches zu dem Magier gesagt hatte. Nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte sich Nicholas eine Zeitlang gefragt, ob Reynard den jungen Mann geliebt hatte, der sich wegen der Erpressung umgebracht hatte. Später kam er zu dem Schluss, dass es nicht sehr wahrscheinlich war. Aber der junge Mann war sein Freund gewesen, und Reynard hatte sich für seinen Tod verantwortlich gefühlt. Nicholas glaubte, dass sich hinter den meisten Exzessen Reynards letztlich nichts anderes verbarg als ein übersteigertes Verantwortungsgefühl. Und was verbirgt sich hinter meinen Exzessen? Über diese Frage wollte er lieber nicht so genau nachdenken. »Mach dir da mal keine Sorgen«, erwiderte er schließlich. »Wenn ich in Selbstmitleid versinke, dann unternehme ich wahrscheinlich etwas viel Spontaneres und Spektakuläreres, als mir eine Opiumpfeife anzuzünden.« Seine Worte klangen um einiges ernster, als er es beabsichtigt hatte, daher fügte er hinzu: »Zuerst muss ich mir natürlich bei Madeline die Erlaubnis holen.«
Um Reynards Mundwinkel zuckte es, aber nicht aus Amüsement. Dennoch ging er auf den Versuch ein, die Stimmung ein wenig aufzuhellen. »Ich frage mich sowieso, wie es Madeline überhaupt mit dir aushält.«
»Madeline … hat ihr eigenes Leben und ihre eigenen Sorgen.« Vielleicht war dieses Thema doch nicht so unverfänglich.
»Ja, zum Glück. Das macht sie erstaunlich tolerant gegenüber Aspekten deiner Persönlichkeit, bei denen ich nicht anders könnte, als dich mit dem Kopf gegen die nächste Wand zu knallen.«
»Wenn du ihre Großmutter kennenlernst, kriegst du vielleicht eine Ahnung, woher sie ihr dickes Fell hat.«
Als sich die Kutsche dem städtischen Gefängnis näherte, konnte Nicholas keine Anzeichen des Aufruhrs bemerken, von dem Reynard gesprochen hatte. Die Straßen Viennes wirkten belebt, aber so friedlich wie immer. Bestimmt hatten die Verwüstungen durch den Sendfluch am Lethe Square für einige Unruhe gesorgt, aber Vienne blickte auf eine lange Geschichte zurück, in der sich schon viel Schlimmeres zugetragen hatte.
Dann passierte die Kutsche das Finanzministerium und erreichte die Courts Plaza.
Das Gefängnis nahm eine ganze Längsseite des riesigen Platzes ein. Die mehrere Stockwerke hohen Mauern aus dunkel gemasertem Stein wurden von sechs gewaltigen, spitz zulaufenden Türmen unterbrochen. Vor langer Zeit hatte der Bau als Befestigungsanlage des alten Stadtwalls gedient, und man konnte noch immer die Stellen erkennen, wo die zahlreichen Tore mit neuerem Stein gefüllt worden waren. Hinter diesen hohen Mauern bestand das Gefängnis aus mehreren separaten Gebäuden und einem Innenhof, aber schon vor Jahrzehnten hatte man Verbindungsgänge gebaut und den Hof überdacht. Zum letzten Mal war Nicholas vor vielen Jahren hier gewesen, als er anfing, Count
Montesqs kriminelle Machenschaften aufzudecken. Er hatte herausgefunden, dass ein brutaler Mord, von dem die ganze Stadt sprach, in Wirklichkeit auf das Konto von zwei Leuten ging, die in Montesqs Sold standen. Der Mann, der an ihrer Stelle ins Gefängnis wanderte, war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, und die eigentlichen Täter hatten die Gelegenheit genutzt, ihm das Verbrechen anzuhängen. Nicholas hatte keine Beweise und wenig Vertrauen in Viennes Justiz und ergriff daher insgeheim Maßnahmen, um dem Unschuldigen zur Freiheit zu verhelfen. Auf diese Weise hatte er Crack kennengelernt.
Cracks Flucht aus dem Gefängnis war ein voller Erfolg, vor allem, weil die Gefängnisbehörden überhaupt nichts von einer Flucht wussten. Offiziell war Crack tot und lag in einem der Armenfelder am Stadtrand begraben.
Als die Kutsche den Platz überquerte, passierte sie auch einen alten Galgen, ein grimmiges Denkmal der Gerichtshöfe Viennes. Seit fünfzig Jahren war er außer Gebrauch, weil das Ministerium die Anweisung erteilt hatte, Hinrichtungen nur noch innerhalb des
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