Necromancer - The Death of the Necromancer
schlummerndes Talent zur Magie. Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass er Arisilde so gut kannte.
Es war ein alter, nicht besonders gut erhaltener Band mit abgeschabtem Deckel und bräunlichen Seiten. Die erhabenen Buchstaben des Titels waren so stark abgetragen, dass
man sie nicht mehr lesen konnte. Nicholas schlug es wahllos an irgendeiner Stelle auf.
Er blickte auf einen Holzschnitt. Im ersten Augenblick glaubte er, die Abbildung eines modernen Anatomiesaals vor sich zu haben. Doch als er das Buch weiter ins Licht hielt, erkannte er mit einem Schock die Szenerie aus dem Valent House: einen schemenhaften Raum und einen an einen Tisch gefesselten Mann mit aufgeschnittenem Bauch und offenliegenden Eingeweiden. Nur dass auf diesem Bild das Opfer schrecklicherweise noch lebte und der Vivise - zierer neben ihm stand. Es war eine unheimliche Gestalt, bucklig und boshaft schielend wie eine Figur aus dem mittelalterlichen Theater, gekleidet in ein Wams und eine Halskrause mit hohem Kragen, wie man es schon seit ein oder zwei Jahrhunderten nicht mehr trug. Die Bildunterschrift lautete: »Der Nekromant Constant Macob bei der Arbeit, bevor er hingerichtet wurde«. Das angegebene Datum lag knapp zweihundert Jahre zurück.
Die Seite war fleckig, wie er es aus seiner Jugend in Erinnerung hatte. Er blätterte zur Titelseite und fand einen kindlichen Schriftzug in verblasster Tinte: Nicholas Valiarde.
Ich suche ein Buch …
Typisch Arisilde. Er hatte nicht etwa eine andere Ausgabe gefunden. Nein, er hatte genau die beschafft, die Nicholas in seiner Kindheit gehört hatte.
Nicholas klappte das Buch zu und schob es sorgfältig in die Jackentasche. Wieder fiel sein Blick auf Arisilde. Nein, du bist noch lange nicht tot. Halt durch, wenn du kannst. Ich komme bald wieder.
Der Hauptbahnhof von Vienne glich einer großen Kathedrale aus Eisenträgern und Glas. Zu dieser späten Stunde war er zwar nicht mehr überfüllt, aber immer noch stark belebt. Menschen in den verschiedensten Kleidern aus allen Gegenden Ile-Riens hasteten kreuz und quer durch die gewaltige Mittelhalle. Nicholas hörte den charakteristischen Pfiff und schaute auf die Taschenuhr, bevor er an eins der Erkerfenster trat, die einen freien Ausblick auf den Hauptbahnsteig boten. Eine riesige, heiße Dampfwolke vor sich herschiebend, fuhr der Night Royal ein. Donnernd und knirschend kam das schwarze Ungetüm mit den blank polierten Messingstangen zum Stillstand. Der Zug hatte nur zwanzig Minuten Verspätung.
Madeline müsste jeden Augenblick zurück sein. Er gestattete sich keinen zweiten Blick auf seine Uhr. Sie sollte die Telegramme abschicken, die die Anweisungen an die Mitglieder seiner Organisation enthielten. Im Moment war sie ohne ihn sowieso sicherer.
Bevor sie sich von den anderen verabschiedet hatten, hatte ihm Crack seine Pistole überreicht, die jetzt schwer in seiner Manteltasche lastete. Sein Gefolgsmann war nicht erfreut darüber gewesen, dass er nicht mitgenommen wurde, aber Nicholas hatte sich auf keine Diskussionen eingelassen. Es kam nicht in Frage, dass er seine Freunde mit in den Tod riss. Und Madeline? Sie hatte eisern darauf bestanden, ihn zu begleiten.
Er entfernte sich vom Fenster und schlenderte zurück in die Halle. Auf den Bänken drängten sich schläfrige Familien, die auf Züge oder Verwandte warteten, die sie abholen sollten. Auf der Galerie gab es einen Aufenthaltsraum für Erste-Klasse-Fahrgäste, und immer wieder hörte er durch
das Stimmengewirr und das dumpfe Getöse der Lokomotiven die Musik eines Streichquartetts, das dort oben spielte. Nicholas bevorzugte die Anonymität der Haupthalle, vor allem jetzt, wo ihm jemand nach dem Leben trachtete.
Seine Anweisungen an die Organisation liefen darauf hinaus, dass alle in den nächsten Tagen untertauchen sollten. Reynard würde Dr. Octave überwachen, aber nur aus der Ferne, und Cusard sollte alle nötigen Maßnahmen ergreifen, um die Pläne zum Einbruch in Count Montesqs Haus aufzuschieben. Auch nach Coldcourt hatte Nicholas ein Telegramm geschickt, um Sarasate zu warnen. Arisilde musste er fürs Erste der Obhut Ishams überlassen. Er konnte nur hoffen, dass sich der Sendfluch auf ihn konzentrierte und die anderen in Ruhe ließ.
Aus dem Night Royal quoll eine Delegation parsischer Adliger, deren Dienerschaft wild gestikulierend praktisch alle verfügbaren Gepäckträger herbeirief, um die große Zahl von schweren Schrankkoffern abzutransportieren. Dadurch würde sich alles
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