Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
er gleich platzen?« Er blinzelte, damit seine Augen aufhörten zu tränen, und schluckte schwer.
Grippe, und zwar eine, wie sie im Buche steht! Du zeigst die klassischen Symptome. Das ist eine Gegenreaktion auf deinen Aufenthalt in London. Ich war zwar nur ein einziges Mal dort – das ist jetzt, oh, dreißig Jahre her, als ich noch eine junge Frau war –, und das auch nur für ein paar Wochen; aber mir ist es genauso ergangen! Der ganze Smog und der Ruß von den Zügen und die schmutzigen Bahnhöfe. Und nicht nur das! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst im Haus bleiben und nicht an den Fluss kommen, um dich mit mir zu unterhalten? Nicht bei diesem schlechten Wetter, Harry! Du hättest im Warmen bleiben sollten, wo es trocken und gemütlich ist.
Harry zuckte die Achseln. »Du weißt doch, dass das nicht meine Art ist, Mutter.« Er brachte ein trockenes Grinsen zustande. »Und außerdem, das London, von dem du sprichst, gibt es nicht mehr! Heute ist es nicht mehr so schlimm. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass jemand, der in den Vierziger Jahren, als du noch ein Mädchen warst, in die Themse fiel, noch von Glück sagen konnte, wenn er bloß ertrank – weil die Wahrscheinlichkeit nämlich viel höher war, sich gleich ein ganzes Dutzend verschiedener tödlicher Infektionskrankheiten zu holen!«
Er spürte seine Mutter körperlos nicken. Das mag schon stimmen, ja. Aber ...
»... und heute gibt es auch wieder Fische in der Themse«, klärte er sie auf. »Sogar Lachse!«
Nun, ich würde keinen davon essen! , entgegnete sie. Außerdem lenkst du ab! Du weißt nämlich ganz genau, was als Nächstes kommt.
»Ich soll zum Arzt gehen?« Wie er so am Ufer der Flussschleife über den grau schimmernden, windgekräuselten Fluten kauerte, zog er seine Jacke enger um sich. Aber in der Stimme des Necroscopen schwang etwas mit (ein verächtlicher Unterton? Ungeduld? Oder war es bloß Widerspenstigkeit?), was seine Mutter auf die Palme brachte.
Ha!, schnaubte sie. So viel ist dir ein guter Rat also wert? Nun, »wenn sich einer nicht helfen lässt«, pflegte deine Großmutter immer zu sagen ...
»... dann ist ihm auch nicht zu helfen«, führte Harry den Satz zu Ende. »Ja, Mutter, ich weiß. Ich weiß ja, dass du recht hast. Und ich werde ja auch zum Arzt gehen – gleich morgen.«
Warum nicht heute?
»Weil es schon später Nachmittag ist. Selbst wenn ich eine Praxis finden würde, die noch aufhat, dürfte das Wartezimmer voll sein. Und, Mutter, heutzutage sieht ein Arzt dich schief an, wenn er wegen einer Grippe einen Hausbesuch machen soll!«
Natürlich, sagte sie. Du wartest lieber erst ab, bis du tot bist, nicht wahr? Und noch ehe er etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: Harry, du wohnst ganz allein hier draußen und du hast niemanden, der dir nahe steht! Nun, jedenfalls nicht unter den Lebenden. Was, wenn du dir etwas Ernstes eingefangen hast?
Er zuckte die Achseln. »Aber ich habe doch ein Telef...« Er verstummte.
Ganz recht, ein Telefon ... vor dem du Angst hast? Und ich kann es dir nicht verdenken. Das war wirklich ein übler Traum, Harry!
»Oder womöglich auch eine Warnung?«, meinte er nachdenklich ... und schüttelte dann den Kopf. »Nein, Mutter, ich habe keine Angst vor dem Telefon, ich nehme mich nur ein bisschen in Acht davor ... und zwar so lange, bis ich herausgefunden habe, was das alles zu bedeuten hat.«
Eine Warnung? Was soll das heißen?
»Alec Kyle war ein Hellseher. Darin bestand sein Talent: Er war in der Lage, hin und wieder einen Blick in die Zukunft zu erhaschen. In der Regel geschah dies im Traum, kurz vor dem Aufwachen. Und ich nehme an, er ist immer noch einer. Oder vielmehr ...«
Du? Mitunter war sie gar nicht so schwer von Begriff.
»Kann schon sein! Dieser Traum war nicht meine erste ... hm, Warnung?«
Aber ist das denn nicht recht nützlich? , wollte sie wissen. Ich meine, es ist doch sicherlich besser, wenigstens etwas von dem zu erfahren, was einen erwartet, als völlig im Dunkeln zu tappen?
»Schon möglich«, erwiderte er. »Aber allein das Wissen darum, dass etwas Unerfreuliches auf mich zukommt, hilft mir noch lange nicht, es auch zu verstehen. Manchmal begreife ich es und manchmal wiederum nicht. Bei Kyle hat es ebenso funktioniert. Außerdem ...« Abermals hielt Harry inne.
Ja?
»Ich glaube, dass Kyle vielleicht Alkoholiker war«, platzte es aus ihm heraus. »Er hatte es unter Kontrolle – jedenfalls so gut es ging –, aber trotzdem war die Sucht da!«
Um Gottes
Weitere Kostenlose Bücher