Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
seine Sorge war nicht gespielt. »Nicht allzu gut, Harry! Ehrlich gesagt, du siehst aus wie ausgekotzt!«
Ein Grinsen stahl sich um Harrys Lippen. Wie ausgekotzt! Und dies ausgerechnet von Darcy Clarke! Nicht etwa, dass Darcy so aussah – nein, keineswegs; Darcy war der wohl unscheinbarste Mann, den man sich vorstellen konnte. Doch um sein unscheinbares Äußeres wettzumachen, hatte die Natur ihn mit einem schier einzigartigen Talent ausgestattet. Er war ein Deflektor, das Gegenteil von einem Unglücksraben. Er brauchte sich nur in die Nähe einer Gefahr zu begeben, und schon sprach irgendetwas, sein parapsychologischer Schutzengel, an und bewahrte ihn davor. Er hatte keinerlei Kontrolle darüber und wurde sich dessen auch nur bewusst, wenn er sich wissentlich einer gefährlichen Situation aussetzte oder von einer Gefahr überrascht wurde.
Die Talente der anderen – Telepathie, Vorahnungen, Traumdeutung und Hellsehen oder auch das Entdecken von Lügen – waren verlässlicher. Mit ihnen konnte man arbeiten und sie bei Bedarf einsetzen. Anders bei Darcy. Sein Talent beschützte ihn, und das war alles, was es fertigbrachte. Aber gerade weil es sicherstellte, dass er stets überleben würde, war er die Idealbesetzung für seinen Posten. Beständigkeit war ganz wesentlich für das E-Dezernat. Das Paradoxe daran war, dass er selbst nicht so recht daran glaubte, und zwar so lange nicht, bis er merkte, dass es aktiv wurde. Er stellte immer noch jedes Mal den Strom ab, ehe er es auch nur wagte, eine Glühbirne auszuwechseln. Doch vielleicht war dies ja bereits ein Beispiel dafür, wie sein Talent funktionierte.
Wenn man Clarke so ansah, würde man niemals annehmen, dass er eine leitende Position innehatte, und schon gar nicht bei der geheimsten Abteilung des britischen Secret Service. Gegen alle Hoffnung wünschte er, diese Stellung bald an Harry abtreten zu können. Mittelgroß, mit mausbraunem Haar, vor der Zeit leicht hängenden Schultern und einem kleinen Bauchansatz, war er in einfach jeder Hinsicht durchschnittlich. In einem Gesicht, das nicht allzu oft lachte, saßen irgendwie unauffällige, haselnussbraune Augen. Sein Mund war ernst, und wenn schon an nichts anderes, würde man sich vielleicht daran erinnern. Doch abgesehen davon wirkte Darcy im Großen und Ganzen gesichtslos und sein Äußeres blieb nicht im Gedächtnis haften. Selbst seine Art, sich zu kleiden, war ... konservativ.
Harry musterte ihn und fand: Für einen so außergewöhnlichen Mann wirkt er doch recht durchschnittlich! Und so sehr die Situation dem Necroscopen auch zuwider sein mochte, fiel es ihm doch schwer, jemanden wie Darcy Clarke nicht zu mögen. »Also, was steht heute auf dem Programm?«, fragte Harry, indem er einen Blick auf seine Armbanduhr warf. Es war 9.45 Uhr und Darcy hatte recht: Es war spät. Mittlerweile dürfte im restlichen E-Dezernat emsige Betriebsamkeit herrschen. Doch noch ehe Darcy etwas erwidern konnte, stellte Harry bereits eine weitere Frage. »Und was ist mit Brenda? Hast du sie heute Morgen schon gesehen?«
»Wir haben unten zusammen gefrühstückt«, antwortete Darcy. »Es geht ihr ... nun ja, gut.« Aber er schien sich dessen nicht allzu sicher. Um das Thema zu wechseln, fügte er hastig hinzu: »Und der Kleine ist einfach niedlich! Ich meine, er macht wirklich Fortschritte ...«
Harry starrte ihn an. Im Augenblick interessierte ihn das Baby nicht im Geringsten. »Sie will mich immer noch nicht sehen, stimmt’s?«
Darcy wedelte hilflos mit den Armen. »Harry, es ist doch erst ...«
»... anderthalb Jahre her«, schnitt der Necroscope ihm das Wort ab. Er hatte recht. Die Zeit war wie im Flug vergangen.
»Okay«, nickte Darcy. »Aber du musst Brenda – und dir selbst auch – noch ein bisschen Zeit lassen! Ich meine, wenn weder du noch wir uns bislang daran gewöhnt haben, was erwartest du dann von ihr? Sie ist bloß ein Mädchen und sie hat eine Menge durchgemacht!«
Der Necroscope blickte ihn weiterhin unverwandt an. Schließlich nickte er, zuckte die Achseln und seufzte tief auf. Ihm war klar, dass Darcy recht hatte. Das Leben ging weiter und im Moment spielte sich Harrys Leben hier im E-Dezernat ab. Er musste sich einbringen und ein Teil davon werden. Solange es etwas zu tun gab, würde er es schon schaffen. Nun ja, abgesehen von diesen dämlichen, endlosen Einsatzbesprechungen.
»Wir glauben, dass es etwas für dich zu tun gibt«, sagte Darcy, als habe er Harrys Gedanken gelesen. Sein Atem beruhigte
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