Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)

Stadtmitte hin nach Osten. Ein Blick in Richtung Hyde Park zeigte Harry, dass es auf dieser Seite von Polizisten nur so wimmelte. Eine Panik war noch nicht ausgebrochen, aber es herrschte reger Betrieb. Wie aus dem Nichts tauchten Absperrungen auf. Sie wurden über die Straße geschleppt, der Verkehr aus Harrys Richtung musste halten und wurde umgeleitet. Der fragliche Bereich musste also weiter westlich, zum Zentrum hin, liegen.
    In Richtung Holborn wurden Fahrzeuge wie auch Fußgänger von der Hauptverkehrsstraße in Seitenstraßen umdirigiert und etliche der Polizisten dort benutzten Megafone. Ein Großteil der Leute schien dies gewohnt zu sein; sie gingen zwar etwas schneller, legten im Großen und Ganzen aber keine besondere Eile an den Tag.
    Die meisten wirkten verärgert über die Störung ihrer Alltagsroutine, befolgten aber trotzdem die Anordnungen der Polizei, während immer weitere Beamte am Schauplatz eintrafen. Andere hingegen achteten überhaupt nicht darauf, sondern gingen unbeirrt weiter ihrer jeweiligen Beschäftigung nach, so als ob überhaupt nichts wäre.
    Sechs mit Gebetsperlen behängte Hare-Krishna-Jünger mit rasierten Schädeln zogen, die Arme in den weiten Ärmeln ihrer roten Gewänder verschränkt, in einem beinahe mechanischen, schlurfenden, trippelnden Gänsemarsch mit gesenktem Kopf den Bürgersteig entlang. Sie bewegten sich rasch, aber ohne aus dem Tritt zu geraten, und hielten die Köpfe so tief gesenkt und schienen so sehr in die Betrachtung ihrer Füße versunken, dass Harry sich wunderte, weshalb sie nicht irgendwo anstießen. Ihr Anführer und der Mann, der den Schluss bildete, trugen winzige goldene Glöckchen, die im Takt ihrer exakt bemessenen Bewegungen klingelten. Es sah beinahe so aus, als würde ein Uhrwerk ablaufen.
    Allerdings befand sich Harry nicht hier, um dem Treiben der Lebenden zuzusehen, sondern um dem Tod Paroli zu bieten. Schön, nur wie sollte er dies anstellen? Er stand unentschlossen herum, bis ein junger Polizeibeamter, etwa so alt wie er, auf ihn zukam und sagte: »Besser, Sie gehen von den Absperrungen weg, Sir! Nicht mehr lange, dann räumen wir die ganze Straße.«
    Harry blickte ihm direkt in die Augen. »Sehen Sie, ein paar Freunde von mir – Angehörige des E-Dezernats, Trevor Jordan und Darcy Clarke? – helfen euch da vorne aus. Wahrscheinlich haben Sie noch nie etwas von diesen Leuten gehört, aber Ihre Vorgesetzten müssten Bescheid wissen. Und weil ich davon ausgehe, dass meine Freunde wesentlich näher am Ort des Geschehens sind, muss ich da hin. Deshalb wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich dorthin bringen könnten. Dahin, wo alles passiert?«
    Der Polizist hörte Harry zu und wirkte zunächst überrascht; doch dann wurde sein Blick ausdruckslos. Er legte die Stirn in Falten, bis seine Augenbrauen einander berührten, und sah Harry streng an: »Vom E-Dezernat, was? Tut mir leid, Kumpel, aber Sie haben recht: Davon habe ich noch nie gehört! Sie sind von der Presse, nicht wahr? Egal, meine Anweisungen lauten anders. Darum muss ich Sie bitten, weiterzugehen!«
    Der Bürgersteig war noch immer voller Menschen. Indem Harry auf sie deutete, erwiderte er: »Wie, nur ich? Ich meine ... können Sie denn nicht erst die dazu bringen, von hier zu verschwinden? Und was ist mit den Hare-Krishna-Leuten?«
    Das brachte den jungen Officer auf die Palme. Zwischen zusammengepressten Zähnen sagte er: »Hör zu, Freundchen, irgendwo müssen wir nun mal anfangen und du bist zufällig der Erste! Also lass deine Unverschämtheiten und beweg’ deinen Arsch von hier weg!«
    Harry schluckte seinen Ärger hinunter. Stattdessen nickte er nur, beschwor ein Möbiustor herauf und trat hindurch. Von einem Augenblick auf den anderen war er verschwunden. »Und wenn du einen guten Rat von mir ...«, begann der Beamte. Doch dann unterbrach er sich. Da war niemand mehr und die Leute fingen schon an, ihn schief anzusehen. Ungelenk drehte er sich ein paar Mal im Kreis, um nach Harry Ausschau zu halten, aber der blieb verschwunden. Schließlich verzog er sich in einen Ladeneingang, wo er den Blicken entschwand ...
    An der Einmündung der Regent in die Oxford Street tauchte der Necroscope wieder aus dem Möbius-Kontinuum auf, und ihm war klar, dass er sich nun ziemlich nah am Schauplatz befinden musste. Überall waren Polizisten in Uniform, hektisch bemüht, die Straße zu räumen. Ein Blick auf seine Uhr verriet Harry den Grund: Es war 10.16 Uhr. Wenn tatsächlich jemand eine