Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
einer bösartigen Verschwörung. Sein Gedächtnis dagegen funktionierte wieder einwandfrei – insbesondere seit er es aufgegeben hatte, persönlich nach Brenda zu suchen. Wenn er schlief, suchten ihn jedoch noch immer groteske Albträume heim, an die er sich im Wachzustand nicht mehr zu erinnern vermochte. Er wusste lediglich, dass sie schlimmer waren als je zuvor.
Alles, woran er sich erinnerte, war, dass sie mit der Großen Mehrheit, den zahllosen Toten, zu tun hatten, die ihm verzweifelt eine Botschaft zu übermitteln suchten, die er aber nicht empfangen durfte; und an das Bild seiner geliebten Mutter, die, das Gesicht voller Sorge, die Arme weit ausbreitete, so als wolle sie ihn vor dem Ansturm der zahllosen Gedanken schützen. Und wenn er noch darum kämpfte, wach zu werden, sah er stets den bereits vertrauten Mond vor sich und davor den Umriss eines Wolfes, den Schädel zum Geheul weit in den Nacken gelegt.
Merkwürdigerweise quälten ihn diese Träume nicht, wenn er mit Bonnie Jean zusammen war. Ein weiteres Paradox war, dass die Toten, wenn er völlig bei sich war, anscheinend weniger Wert auf seine Gesellschaft legten, während er gleichzeitig das unbestimmte Gefühl hatte, sie warteten auf etwas. Er wusste allerdings nicht, worauf ...
»Ich wüsste zu gerne, woran du im Augenblick denkst«, riss Bonnie Jean den Necroscopen aus seinen Gedanken. Dies sagte sie hauptsächlich, um die ungewohnte Stille zwischen ihnen auszufüllen, eine Leere, die – zumindest was sie anging – beinahe körperlich wehtat. Seit Radu ihr befohlen hatte, Harry zu ihm zu bringen, wuchs dieses Gefühl immer mehr in ihr.
»An gar nichts«, log Harry. Er wollte sie nicht beunruhigen. »Ich habe mich nur zurückgelehnt und genieße das alles hier.«
»Die Fahrt? Wenn du möchtest, kannst du fahren.« (Andererseits, vielleicht doch lieber nicht. Sie fuhren Richtung Norden, und Mittag war bereits vorbei. Wenn sie ihn ans Steuer ließ, würde sie sich im warmen Sonnenschein, der durchs Beifahrerfenster fiel, unbehaglich fühlen.)
Er schüttelte den Kopf, stellte seine Rückenlehne ein bisschen höher und blickte aus dem Fenster. Beinahe unbemerkt war der Sommer dem Herbst gewichen. Die Bäume verloren bereits ihre Blätter. Rot-, Gold- und Brauntöne rauschten an ihnen vorbei und gelegentlich das glänzende Grün eines Nadelgewächses. »Wo sind wir eigentlich?«
»Ich, äh, ... habe heute eine andere Route genommen«, setzte sie zu einer Erklärung an, doch dann fiel ihr ein, dass es gar nichts zu erklären gab. Harry war ja noch nie hier draußen gewesen. Jede Gegend nördlich des Firth of Forth war Neuland für ihn.
»Ich dachte mir, das ist – ich weiß nicht – mal was anderes?« Sie machte sich an ihrer Sonnenbrille zu schaffen und rückte sie auf der Nase zurecht. Der wirkliche Grund, weshalb sie eine andere Strecke nahm, war, dass sie von ihrer Routine abweichen wollte, um einen etwaigen Verfolger – wie zum Beispiel den Späher, der ihr nun schon des Öfteren aufgefallen war – aus dem Konzept zu bringen. Zudem hatte sie tagsüber noch nie einen Beobachter bemerkt. Darum schien es ein guter Gedanke, bei Tag zu fahren.
»Mal was anderes?«, meinte Harry. »Hm, deshalb sind wir ja hier. Aber ich wollte wissen, wo wir sind.«
»Blairgowrie liegt hinter uns, als Nächstes kommt jetzt Pitlochry«, sagte sie. »Hilft dir das weiter?«
Er zuckte die Achseln. »Ich hätte nicht fragen sollen.« Und in einem seltenen Anfall von Humor fügte er hinzu: »Das klingt wie spanische Dörfer für mich!«
»Schottische Dörfer!«, korrigierte sie ihn. Doch auch ihr Lächeln schwand rasch wieder aus ihrem Gesicht. Sie fragte sich, was er wohl wirklich dachte, der Mann tief in seinem Innern. Denn tief im Innern wusste er, weshalb sie hier waren, wohin sie fuhren und auf wen er dort treffen würde. Doch er war ein Gefangener in seinem eigenen Geist, und es gab keinen Ausweg – er konnte keine eigenen Gedanken denken, es sei denn, er erhielt den Befehl dazu.
Wie Harry so neben ihr saß, kam er Bonnie Jean mit einem Mal wie ein Zombie vor, gar nicht mehr wie ein eigenständiger Mensch, eher wie eine Marionette, die nur darauf wartete, dass sie die Fäden zog. Und das gefiel ihr nicht – sie fühlte sich schuldig. Tatsache war jedoch, dass er erst dann zu einem Zombie, einer Marionette, werden würde, wenn sie es befahl. Dann würde ihm alles wieder zu Bewusstsein kommen, was sie ihm gesagt hatte ... ohne dass er in der Lage wäre,
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